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Gyne 01/2021 – Kreative Schreibtherapie im medizinischen Kontext

  • 8. Februar 2021
  • Gyne

Gyne 01/2021

Kreative Schreibtherapie im medizinischen Kontext

Autorin:

Dr. med. Julia Schwerdtfeger

Einleitung

Haben Sie mal versucht, in einer beruflich oder privat schwierigen Lebenssituation ein paar Sätze über ein schönes Erlebnis aus Ihrem Leben handschriftlich auf ein Blatt Papier zu bringen? Probieren Sie es einfach und schauen Sie, was passiert.

Konkrete Schreibimpulse wie diese Anfangsübung sind zentrale Inhalte des kreativen therapeutischen Schreibens. Die Methode bietet eine Möglichkeit, stressvolle und konfliktbeladene Lebensphasen zu bewältigen, konstruktiv mit den Herausforderungen umzugehen und neue Kraftimpulse für sich selbst zu gewinnen. Schreibtherapie ist ebenso wie andere kreative Therapierichtungen (Kunst-, Musik- und Tanztherapie) erlebnisorientiert. Im kreativen Gestalten öffnen sich Räume für neue Fähigkeiten und Erkenntnisse. Künstlerische Therapien sprechen Menschen auf einer sinnlichen Ebene an und können wirkungsvoll helfen, seelische Kräfte freizusetzen und den individuellen Handlungsspielraum zu vergrößern.

Mit geschriebenen Worten lassen sich Bilder erschaffen, die auf unsere innere Welt wirken und die persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten erweitern. Die kreative Schreibtherapie hat einen verstärkenden Effekt auf reselienzfördernde Faktoren wie Selbstwirksamkeit, Selbstbewusstsein und realistischen Optimismus bei Menschen in und nach Krisensituationen. Außerdem lassen sich die geschriebenen Texte immer wieder nachlesen und werden somit zu einer persönlichen Ressource, auf die jederzeit zurückgegriffen werden kann. Das therapeutische Schreiben hilft, sich auch in schweren Zeiten positiven Aspekten des eigenen Lebens zuzuwenden und sich durch neu gewonnene Stärken und Kompetenzen weiterzuentwickeln.

Wer profitiert vom kreativen Schreiben?

Im ärztlichen Berufsalltag haben wir oft mit PatientInnen und deren Angehörigen in schwierigen Lebensumständen zu tun. Seien es schwere Erkrankungen oder Krisen- und Konfliktsituationen durch traumatische Erfahrungen oder Schicksalsschläge, die die Menschen oftmals völlig unerwartet treffen und das gesamte Leben ins Wanken bringen können.

Gefühle wie Ohnmacht, Verzweiflung, Wut, Traurigkeit, unterschied- liche Ängste und depressive Ver- stimmungen sind häufige Reaktionen, die in psychosomatisch/psychotherapeutisch ausgerichteten Gesprächen neben den medizinischen Erörterungen über Diagnostik-und Therapiekonzepte eine große Rolle spielen.

Viele Forschungsergebnisse aus den letzten 10–15 Jahren – wie u. a. Pennebaker [1], Unterholzer [2], Haußmann und Rechenberg-Winter [3], Heimes [4] – belegen, dass kreatives Schreiben bei der Wiederherstellung der psychischen Gesundheit einen wichtigen Faktor darstellen kann. Auch körperliche Beschwerden lassen sich mit dieser Therapieform lindern, wie die Ärztin und Schreibtherapeutin Silke Heimes [5] in ihren Untersuchungen eindrucksvoll schildert.

Der Schreibworkshop

Meine eigenen Erfahrungen als Schreibtherapeutin beziehen sich bisher hauptsächlich auf die Arbeit mit an Krebs erkrankten Menschen, zum Beispiel in Workshops bei der Niedersächsischen Krebsgesellschaft in Hannover. Für die Teilnahme an einem Schreibworkshop (6–10 Personen, 90 Minuten pro Sitzung) sind keinerlei Vorkenntnisse oder Schreiberfahrungen erforderlich. Anfängliche Zweifel der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, nicht gut genug schreiben zu können und ohne Idee vor dem weißen Blatt Papier zu sitzen, lassen sich mit dem Hinweis, dass es hierbei überhaupt nicht um einen literarischen Anspruch im eigentlichen Sinne geht und dass man nichts falsch machen kann, schnell ausräumen.

Als Gruppenleiterin ist es meine Aufgabe, den teilnehmenden Personen und den von ihnen verfassten Texten Empathie und Wertschätzung entgegen zu bringen und nicht anhand einer literaturkritischen Skala zu bewerten. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen schreiben vor allem für sich selbst und können nach jeder Schreibübung für sich entscheiden, ob sie den geschriebenen Text in der Gruppe vorlesen möchten oder nicht. Meiner Erfahrung nach geschieht es aber nur recht selten, dass jemand nicht vorlesen möchte. Meist besteht der Wunsch und oft sogar eine Vorfreude, auch zu hören, was die anderen zu einem bestimmten Thema geschrieben haben. Denn die Vorleserunde hat ausgeprägte gruppend namische Wirkungen, stärkt die Identifikation mit der Gruppe und das Gefühl, aufgehoben zu sein und geschätzt zu werden.

Konzeptionell beziehe ich mich zum einen auf die Methode des gesundheitsfördernden kreativen Schreibens, die von den beiden Schreibtherapeutinnen Susanne Diehm und Jutta Michaud [6] entwickelt wurde und seit vier Jahren u.a. an der Charite in Berlin für an Eierstockkrebs erkrankte Frauen in Workshops angeboten wird. Des Weiteren haben mich die Studien der Ärztin und Schreibtherapeutin Silke Heimes [4] und der Schreibwissenschaftlerinnen und Schreibcoaches Renate Haußmann und Petra Rechenberg-Winter [3] in meiner eigenen schreibtherapeutischen Arbeit beeinflusst. Nicht zuletzt sind die phantasievollen Schreibideen der Filmregisseurin und Autorin Doris Dörrie [7] sehr inspirierend.

Schreibimpulse

Anhand von vier Beispielen möchte ich einen konkreten Eindruck vermitteln, was gesundheitsförderndes Schreiben im Detail bedeutet:

Gute-Laune-ABC-Darium
Als Aufwärmübung zu Beginn einer Sitzung eignet sich z. B. ein „Gute-Laune-ABC-Darium“. Die Buchstaben des Alphabetes werden untereinander geschrieben und zu dem Motto „Was mich immer in gute Laune versetzt“ werden Begriffe gesammelt. Natürlich geht es hier nicht um Vollständigkeit, sondern um den spielerischen Umgang mit spontanen Einfällen, sozusagen eine positiv stimmende Lockerungsübung für den Kopf.

A …bendstimmung am Meer
B …randenburgische Konzerte hören
C …appuccino trinken
D …Doppelkopf spielen
E …rdbeertorte mit Sahne
F …luss-Schwimmen
G …edichte lesen
H …immelsblau
u.s.w.

Ich erinnere mich gerne an…
Bei einem anderen Schreibimpuls besteht die Aufgabe darin, fünf Mal untereinander den Satzanfang „ich erinnere mich gerne an…“ zu schreiben und diesen fünf Mal zu vervollständigen. Dabei soll der biografische Gedankenraum möglichst weit offen sein. Es können schöne Kindheitserinnerungen sein, eine eindrucksvolle Reise, eine besondere Begegnung mit einem Menschen, ein Wohlfühlort im Leben, aber auch gegenwärtige kleine Erinnerungen wie ein Spaziergang im Stadtpark ein paar Tage zuvor oder der leckere Spaghettiauflauf vom gestrigen Abend. Danach sollen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen einen dieser Sätze für sich auswählen, in diesen quasi hineinzoomen und die jeweilige Situation mit zwei bis drei Sätzen etwas ausführlicher beschreiben (warum erinnere ich mich gerne an den Sonnenuntergang an der Ostsee im letzten Herbst? Weshalb war das gestrige Abendessen so schön? Etc ).
Wenn anschließend zehn Personen eine Situation aus ihrem Leben vorlesen, an die sie sich gerne erinnern, ist der Raum sofort von einer positiven und oft heiteren Stimmung erfüllt.

Der ungebetene Gast
In einer weiteren, tiefer gehenden Schreibübung − eher geeignet für eine Gruppe, deren Mitglieder sich schon eine Weile kennen und miteinander vertraut sind − geht es um die Auseinandersetzung mit eigenen Ängsten und Sorgen. Die Aufgabe besteht darin, sich die Krankheit oder den aktuellen Konflikt, also das belastende Lebensthema, als einen ungebetenen Gast vorzustellen, der plötzlich vor der Tür steht, seinen Koffer in die Wohnung schiebt und sich nicht abweisen lässt. Nun gilt es, sich irgendwie mit diesem Fremdling auseinanderzusetzen und schreibend mit ihm in den Dialog treten.
Bei dieser Schreibübung bin ich immer wieder verblüfft, wie unterschiedlich die Herangehensweise der Teilnehmer und Teilnehmerinnen ist. Manche gehen direkt auf Konfrontationskurs, bringen ihre Wut über sein Erscheinen zum Ausdruck, schreien ihn ordentlich mit deftigen Schimpfwörtern an und versuchen ihn einzuschüchtern. Andere versuchen, sich zu arrangieren, sich einzuschmeicheln, zum Beispiel dem ungebetenen Gast einen Tee zu kochen, in der Hoffnung, er möge dann mit sich reden lassen und wiedergehen. Wieder andere versuchen, ihn sich vom Leibe zu halten, indem sie eine imaginäre Mauer inder Wohnung einziehen und dem Gast einen bestimmten Platz zuweisen etc.
Diese Übung ermöglicht einen Perspektivwechel, der die Phantasie anregt und letztlich eine entlastende Wirkung haben kann. Beim Vorlesen durchläuft die Gruppe oft eine Achterbahnfahrt der Gefühle, aber auch hier wird gelacht über absurde Gedanken und findige Lösungsstrategien.

Elfchen
Als Abschlussintervention eines Gruppentermins verwende ich gerne einen Miniaturtext, ein kleines Gedicht oder einen Vers, der das Hauptthema der jeweiligen Sitzung noch einmal bündelt. Als Beispiel soll hier ein sogenanntes „Elfchen“ zum Thema Freundschaften dienen, ein Gedicht, bei dem in der ersten Zeile ein Wort steht, in der Zeile zweiten zwei Wörter, in der dritten Zeile drei Wörter, in der vierten Zeile vier Wörter stehen, und in der fünften Zeile wieder nur ein Wort steht. Diese formale Strukturvorgabe wird nach meiner Erfahrung nicht als Einengung der kreativen Ausdrucksmöglichkeiten, sondern im Gegenteil als unterstützende Grundlage für die eigenen Begriffe und Formulierungen empfunden. Im Folgenden ein Beispiel für ein solches Gedicht:

Freundinnen
helfen mir
mit ihrer Nähe
prechen mir Mut zu
einfühlsam

Gezielte Schreibübungen können also helfen, Gedanken zu ordnen, das Chaos im Kopf zu bändigen, wieder in positiv gefärbte Stimmungslagen zu gelangen und sich an der wie von selbst entstehenden Kreativität zu freuen. In den Feedbackrunden am Ende einer Sitzung sind die Teilnehmer und Teilnehmerinnen teilweise richtiggehend erstaunt über die von ihnen verfassten Texte, die sie sich oft nicht zugetraut hätten. Des Weiteren wird die Synergie der Gruppenarbeit immer wieder positiv hervorgehoben. Die geschützte und schreibend konzentrierte Atmosphäre im Raum fördert das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Auch die Vorleserunden der oft sehr unterschiedlichen Texte werden von den Gruppenmitgliedern als verbindend und durch ihre Vielseitigkeit als inspirierend erlebt.

Ausblick

Während sich andere kreative Therapiemethoden wie Kunst-, Tanz- und Musiktherapie in den letzten 30 Jahren im Medizinbetrieb zunehmend etablieren konnten, ist die Methode des kreativ-therapeutischen Schreibens in Deutschland trotz guter aktueller Forschungsergebnisse zum Wirksamkeitsnachweis bisher wenig bekannt. Eine Einbindung dieser kreativen Therapieform zum Beispiel in psychosomatische Kliniken, Reha-Einrichtungen sowie onkologische Zentren wäre unbedingt wünschenswert und aus meiner Sicht einfach zu etablieren, zumal für die Durchführung an Material nur Stift und Papier benötigt werden.

Kreatives Schreiben kann aber auch für Menschen, die im beruflichen Kontext viel Emotionsarbeit leisten, (ÄrztInnen, PsychotherapeutInnen, Krankenschwestern und -pfleger, LehrerInnen, BeraterInnen, um nur einige Berufsfelder zu nennen) zur Entwicklung und Bewahrung von Selbstachtsamkeit hilfreich sein und als ergänzende präventive Methode vor Überforderung und chronischer Erschöpfung im Sinne eines Burn-out-Syndroms schützen. Insofern sehe ich für die kreative Schreibtherapie auch im Rahmen von Balintgruppenarbeit oder in der Supervision durchaus Potenzial. Erste eigene vielversprechende Erfahrungen habe ich in ärztlichen Qualitätszirkeln bereits sammeln können.

Zusammenfassung

Stressvolle Lebenssituationen wie schwere Erkrankungen oder andere Konfliktsituationen stürzen Menschen oft in eine Krise, deren körperliche wie auch psychische Verarbeitung eine große persönliche Herausforderung darstellt. Die Methode des kreativen therapeutischen Schreibens bietet zusätzlich zu medizinisch notwendigen Therapien eine gute Möglichkeit, konstruktiv mit den Belastungen umzugehen und die Lebenskrise zu bewältigen. Mit gezielten Schreibimpulsen lassen sich Gedanken und Gefühle wie Ängste, Trauer und Verzweiflung leichter erfassen und so die Resilienz der Betroffenen fördern. Viele Studien aus den letzten 10–15 Jahren belegen die gute Wirksamkeit des therapeutischen Schreibens als einer ressourcenorientierten kreativen Therapiemethode.

Schlüsselwörter: Schreibtherapie – Schreibimpulse – kreative Therapie – Resilienz – ressourcenorientiert – Schreibworkshop

Summary

Creative writing therapy in a medical context
J. Schwerdtfeger

Stressful life situations such as serious diseases or other conflict situations often plunge people into a crisis whose physical as well as psychological processing represents a great personal challenge. In addition to medically necessary therapies, the method of creative therapeutic writing offers a good opportunity to deal constructively with the stresses and strains and to overcome the life crisis. With targeted writing impulses, thoughts and feelings such as anxiety, grief and despair can be grasped more easily and thus the resilience of those affected can be promoted. Many studies from the last 10–15 years prove the goodeffectiveness oftherapeutic writingas a resource-oriented creative therapy method.

Keywords: writing therapy – writing impulses – creative therapy – resi- lience – resource-oriented – writing workshop

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Julia Schwerdtfeger Frauenärztin/Psychotherapie
Hartenbrakenstr. 47
30659 Hannover
Schwerdtfeger-julia@t-online .de
Schreiben-hilft.net

Slide Kreative Schreibtherapie im medizinischen Kontext Gyne 01/2021

Literatur:

  1. Pennebaker JW. Heilung durch Schreiben. Ein Arbeitsbuchzur Selbsthilfe. Bern: 2010
  2. Unterholzer C. Es lohnt sich einen Stift zuhaben. Schreiben in der systemischen Therapie und Beratung. Heidelberg: 2017
  3. Haußmann R, Rechenberg-Winter P. Alles, was in mir steckt. Kreatives Schreiben im systemischen Kontext. Göttingen: 2012
  4. Heimes S. Warum Schreiben hilft. Die Wirksamkeitsnachweise zur Poesietherapie. Göttingen: 2012
  5. Heimes S. Schreib dich gesund. Übungen für verschiedene krankheitsbilder. Göttingen: 2015
  6. Diehm S, Michaud J. Mit Schreiben zur Lebenskraft. Übungsbuch für Frauen mit Krebserkrankungen und ihre Angehörigen. München: 2018
  7. Dörrie D. Leben Schreiben Atmen. Eine Einladung zum Schreiben. Zürich: 2019

Interessenkonflikt: Die Autorin erklärt, dass bei der Erstellung des Beitrags kein Interessenkonflikt im Sinne der Empfehlung des International Committee of Medical Journal Editors bestand.

Gyne 02/2021 – Welche Vor- und Nachteile hat die Menopausale Hormontherapie (MHT) mit „Bioidentischen“ Hormonen?

  • 27. März 2021
  • Gyne

Gyne 02/2021

Welche Vor- und Nachteile hat die Menopausale Hormontherapie (MHT) mit „Bioidentischen“ Hormonen?

Autorin:

M. J. Beckermann

Zitat
Wie beantworten Sie die folgende Frage einer Patientin: „Ich habe von bioidentischen und naturidentischen Hormonen gehört – ist das eine neue Art der Hormontherapie? Mir wurde gesagt, dass Hormone keinen Schaden anrichten können, wenn es sich um die gleichen Hormone handelt, die im Körper selbst produziert werden, stimmt das?“

Hintergrund
Vor 19 Jahren wurde die WHI-Studie (Women’s Health Initiative) wegen einer Erhöhung der Rate an Brustkrebs und kardiovaskulärer Erkrankungen unter einer kombinierten Östrogen-Gestagen-Therapie abgebrochen. Damit war der Traum vieler Frauenärztinnen und Frauenärzte, eine vorbeugende Hormontherapie könnte das Leben verlängern und kardiovaskuläre Erkrankungen verhindern, geplatzt. Die WHI-Studie war aber nicht konzipiert worden, um die eigentliche Indikation einer Hormontherapie, nämlich die Behandlung von Wechseljahresbeschwerden, zu untersuchen. In dieser Studie ging es darum, herauszufinden, ob Hormone Alterskrankheiten vorbeugen können.

10 Jahre nach dem Abbruch der Studie versuchten Forscherinnen und Forscher, neu zu bestimmen, ob Frauen in ihren 50er Jahren, die die Hormone wegen vasomotorischer Beschwerden einnehmen, mit denselben Risiken rechnen müssen wie die WHI-Studienteilnehmerinnen, die durchschnittlich 63 Jahre alt waren. Sie entwickelten die „Timing-Hypothese“ die besagt, dass bei Frauen, die zwischen 50 und 60 Jahren bzw. innerhalb von 10 Jahren nach der Menopause mit den Hormonen beginnen, die meisten Risiken deutlich geringer oder nicht vorhanden seien. Das Problem ist, dass alle Ergebnisse dieser Subgruppenanalysen nicht signifikant sind [1]. Ungeachtet dessen haben jüngere Frauen ein niedrigeres Ausgangsrisiko für kardiovaskuläre Erkrankungen als ältere Frauen. Selbst wenn die Risikoerhöhung bei ihnen genauso hoch wäre wie bei den älteren Frauen, könnten sie insgesamt von einem niedrigeren Risiko ausgehen als die WHI-Studie für die älteren Frauen gezeigt hat. Beim Brustkrebs ist das anders. Da ist die Risikoerhöhung bei den Frauen, die früh mit der Hormoneinnahme beginnen, sogar größer als bei den Frauen, die älter sind als 60 [2, 3].

Außer dem Timing soll auch die Art der Hormone sowie die Applikationsart Einfluss auf das Risikoprofil haben. Manche Forscherinnen und Forscher, Frauenärztinnen und Frauenärzte vertreten sogar die Auffassung, dass die „neuen“ Hormontherapien nur noch Vorteile haben und mit keinem erhöhten Risiko verbunden seien. Das Zauberwort heißt „Bioidentische Hormone“. Die Verordnungszahlen sog. bioidentischer Hormone steigen rasant an, ob als Fertigarzneimittel oder als in kooperierenden Apotheken zusammengemischte Magistralrezepturen. Frauenwird erklärt, dass die neuen Rezepturen mit denen aus der WHI-Studie überhaupt nicht vergleichbar seien. Die Versprechungen sind teilweise so anmaßend wie in den 1990er Jahren und wollen glauben machen, dass die WHI-Studie mit den „neuen“ Behandlungen nichts zu tun habe. Vor diesem Hintergrund möchte ich darlegen, was unter bioidentischen oder naturidentischen Hormonen überhaupt zu verstehen ist und welche gesicherten Daten es zu ihrer Wirksamkeit und ihren Risiken gibt.

Begriffsklärung
Bioidentische bzw. naturidentische Hormone sind Hormone mit der gleichen chemischen Formel, wie sie im Frauenkörper produziert werden, egal ob sie in Eierstöcken oder in chemischen Fabriken hergestellt werden.

Im Frauenkörper spielen vor allem drei Östrogenarten eine Rolle. 17-bÖstradiol hat die stärkste Wirkung. Östriol und Östron haben einen schwächeren Effekt. 17-b-Östradiol wurde vor allem in Europa bereits seit den 1960er Jahren zur Behandlung menopausaler Beschwerden eingesetzt, zuerst als Injektionslösung, später in Tablettenform und danach auch zur transdermalen Behandlung mit Pflaster und Gel. Des Weiteren steht ein 17-b-Östradiol-Nasenspray zur Verfügung. Vereinzelt wurden und werden Frauen auch mit Östrioltabletten behandelt. Diese drei Östrogenarten fallen unter den Begriff naturidentischer oder bioidentischer Östrogene. Ihre Verwendung ist keineswegs neu, sondern so alt wie die Hormontherapie selbst.

Progesteron bzw. Gelbkörperhormon ist das Hormon, was in der zweiten Zyklushälfte bei geschlechtsreifen Frauen produziert wird. Es wird als „natürliches Progesteron“ den synthetischen Gestagenen gegenübergestellt. Synthetische Gestagene haben eine höhere Wirksamkeit als Progesteron. Sie können den Eisprung verhindern und wurden deswegen für Ovulationshemmer entwickelt. Das „natürliche“ Progesteron wird chemisch produziert. Es findet klinische Anwendung, seit es – etwa seit 20 Jahren – in mikronisierter Formhergestellt wird. Nicht mikronisierte Progesteronmoleküle werden im Magen-Darm-Trakt schnell aufgespalten und können keine Wirkung entfalten. Über die Haut wird Progesteron kaum bis gar nicht resorbiert. Alle transdermalen Produkte wirken gar nicht oder nur unzuverlässig. Über Schleimhäute und unverhorntes Plattenepithel wie in der Vagina kann Progesteron jedoch zuverlässig resorbiert werden.

Früher (vor der WHI-Studie) wurde der Marketingbegriff „natürliche“ Östrogene für die konjugierten Östrogene benutzt. Sie enthalten ein Gemisch aus Östrogenen und östrogenartigen Stoffen, die aus dem Harn trächtiger Stuten gewonnen wurden. Die meisten US-amerikanische Studien wurden mit konjugierten Östrogenen durchgeführt, u. a. die WHI-Studie. Nach Veröffentlichung der Studie brachen die Verkaufszahlen konjugierter Östrogene in den USA wie auch in Europa drastisch ein.

Seit der Verbreitung der alarmierenden Daten der WHI-Studie zu den Risiken von Hormonen unterlaufen manche Ärzte die Angst der Frauen vor einer Hormontherapie durch die Verordnung hormonhaltiger Magistralrezepturen, im englischen compounded hormones. Sie werden nach Vorgaben der Ärztinnen und Ärzte in Apotheken angemischt und den Frauen als „individuell auf sie abgestimmte“ Produkte verkauft. Inhaltsstoffe und Menge müssen zwar deklariert werden, aber es gibt nicht die typischen Beipackzettel. Rechtlich sind Magistralrezepturen ausnahmsweise nur dann erlaubt, wenn ein deutlicher Zusatznutzen vorliegt oder wenn kein Fertigarzneimittel zur Verfügung steht. Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker übernehmen die Haftungsrisiken, die sonst pharmazeutische Firmentragen. Sie haben auch eine Aufklärungsverpflichtung, die dem Inhalt von Beipackzetteln entspricht. Deutsche Gerichte legen die Möglichkeit zur Nutzung dieser Ausnahme der Zulassungsverpflichtung eng aus – darüber sollten Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker, die Magistralrezepturen anfertigen (lassen) oder weiter geben sich im Klaren sein. Die Produkte werden oft verharmlosend beworben, z. B. „auf der Basis von Yamswurzeln“.

Tatsächlich werden die meisten Hormone auf der Basis von Yamswurzeln hergestellt, und zwar sowohl Östrogene als auch Progesteron bzw. Gestagene. Yamswurzeln werden industriell angebaut, weil sie große Mengen Diosgenin enthalten. Es gehört zu den Steranen, die als Vorläufermoleküle für die chemische Produktion von Steroidhormonen genutzt werden. Neben den rechtlichen Bedenken sind Magistralrezepturen nicht so zuverlässig wie Fertigarzneimittel, weil diese einer stärkeren Kontrolle unterliegen [4].

Update zu Vor- und Nachteilen einer Menopausalen Hormontherapie (MHT)
Für die kombinierte Östrogen-Gestagen- Therapie mit Konjugierten Östrogenen (CEE) und MPA sind Vorteile und erhöhte Risiken nachgewiesen, zusätzlich sind Vorteile möglich oder ungewiss und Risiken wahrscheinlich (s.Tab. 1). Dies gilt ebenfalls für die alleinige Therapie mit Östrogenen (Konjugierte Östrogene CEE ;_s. Tab. 2).

Ändern Variationen einer Hormontherapie deren Vor-und Nachteile?
Die Datenlage zu Variationen einer MHT hat schwache bis moderate Evidenzlevel. Die großen randomisierten Doppelblindstudien (WHI, HERS) wurden mit konjugierten Östrogenen (CEE) und Medroxyprogesteronacetat (MPA) durchgeführt. Kleinere RCTs und RCTS, die nur über einen kurzen Zeitraum (z. B. 1–2 Jahre) laufen, sind nicht in der Lage, seltene Ereignisse wie z. B. Lungenembolien zu erfassen. Große Kohorten- und Fallkontrollstudien (z. B. The Million Women Study, die E3N-Studie, ESTHER-Studie, CECILE-Studie, Studie aus UK von Renoux) bilden diese Risiken besser ab, aber sie sind anfällig für Verzerrungen und sind nicht beweiskräftig. Deswegen gelten alle unten angegebenen Aussagen nicht als gesichert. Risikoreduktionen und -erhöhungen werden in diesem Artikel wegen der fehlenden Vergleichbarkeit der Studien nicht in Zahlen angegeben.

Östradiol oral
Die Ergebnisse der WHI-Studie wurden unter anderem kritisiert, weil konjugierte Östrogene (CEE) statt 17-b-Östradiol, einem sog. Bioidentischen Östrogen, angewendet wurden. Was wissen wir über Vergleichsstudien von CEE und Östradiol? In einem systematischen Cochrane Review [6] finden sich weder Unterschiede in derWirksamkeit noch bei den unerwünschten Begleiterscheinungen wie Brustspannen, Zwischenblutungen etc. Unter einer CEE-Therapie sind zwar die Östronspiegel imBlut höher als unter einer Östradioltherapie. Unterschiedliche Auswirkungen auf das Thrombose- Embolie-Risiko, auf koronare Herzkrankheiten oder auf das Schlaganfallrisikowurden aber in keiner Studie nachgewiesen.

Eine Analyse der WHI-Beobachtungsstudie (WHI-OS) zeigt, dass Östradiol keinen Vorteil hat gegenüber CEE in Bezug auf das Brustkrebsrisiko [7]. Eine Metaanalyse der weltweiten Studiendaten zu Hormontherapie und Brustkrebs findet, dass jede Art der Östrogentherapiemit einemerhöhten Brustkrebsrisiko verbunden ist. Der Vergleich zwischen konjugierten Östrogenen und Östradiol fällt eher zugunsten der konjugierten Östrogene aus. Der Unterschied ist aber nicht signifikant [3].

Transdermales statt orales Östrogen
Innerhalb eines systematischen Cochrane Reviews [6] vergleichen zwei Studien transdermales mit oralem Östradiol. Die Frequenz der Hitzewallungen verringert sich in beiden Gruppen gleichermaßen. Auch die KEEPS-Studie bestätigt, dass Hitzewallungen, Nachtschweiß und Schlafstörungen [8] durch orale und transdermale Gabe von Östrogen gleich effektiv behandelt werden.

Im Hinblick auf kardiovaskuläre Risiken wurden entscheidende Unterschiede zwischen einer oralen und einer transdermalen Östrogentherapie festgestellt. Das Thrombose-/Embolierisiko ist laut einem Review von Scarabin [9] bei oralen Östrogenen allein erhöht, bei transdermalen Östrogenen allein jedoch nicht. Eine Metaanalyse der weltweiten Studiendaten zu Hormontherapie und Brustkrebs von2019 findet, dass jede Art der Östrogentherapie mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko verbunden ist. Das Brustkrebsrisiko von oralen und transdermalen Östrogenen unterscheidet sich nicht. Die Ergebnisse sind signifikant [3]. Die französische E3N-Kohortenstudie bestätigt, dass das Brustkrebsrisiko unter oraler und transdermaler Östrogentherapie gleichermaßen erhöht ist [10].

Die Östrogendosis
Eine Subgruppenanalyse aller Behandlungsarten mit 17-b-Estradiol eines systematischen Cochrane Reviews [6] zeigt, dass höhere Dosierungen mit höherer Wirksamkeit verbunden sein könnten, aber auch mit mehr unerwünschten Begleiterscheinungen.

Oliver-Williams findet in einem Review von 2019, dass Östrogene dosisabhängig das Risiko für Thrombose/ Embolie und Schlaganfall erhöhen [11]. Laut einer Fallkontrollstudie aus dem UK ist das Risiko für Schlaganfälle unter transdermalen Östrogenen bis 50 mg nicht erhöht. Orale Östrogene und transdermale Östrogene mit mehr als 50 mg erhöhen das Risikofür Schlaganfälle [12].

Eine Metaanalyse der weltweiten Studiendaten zu Hormontherapie und Brustkrebs von2019 findet, dass jede Art der Östrogentherapie mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko verbunden ist. Bei der kombinierten Östrogen-Gestagen-Therapie ist das Risiko höher als bei der alleinigen Östrogentherapie. Über das Ausmaß der Risikoerhöhung einer kombinierten Östrogen-Gestagen-Therapie entscheidet nicht die tägliche Östrogendosis, sondern ob der Gestagenzusatz kontinuierlich oder sequentiell erfolgt. Der Unterschied wird allerdings erst signifikant nach einer durchschnittlichen Einnahmedauer von 9 Jahren [3].

TransdermalesÖstrogen <50 mg plusmikronisiertes Progesteron
Während eine Therapie mit oralen Östrogenen plus synthetischen Gestagenen das Thrombose-Embolie-Risiko erhöht, ist das Risiko für thromboembolische Ereignisse und für Schlaganfälle bei transdermalen Östrogenen unter 50 mg und mikronisiertem Progesteron niedriger als bei den anderen Formen der MHT [12].

Manche Studienwerten aus, wie verschiedene Gestagen-Ergänzungen das Thrombose-Embolie-Risiko beeinflussen: mikronisiertes Progesteron ist mit keinem oder nur gering erhöhten Risiko verbunden [9, 13, 14]. Bei den synthetischen Gestagenen sind die Ergebnisse in verschiedenen Studien unterschiedlich, und sie sind auch nicht signifikant. Das ist anders bei der Bewertung des Thrombose-Embolie-Risikos der verschiedenen Gestagene in Ovulationshemmern. Diese Ergebnisse können nicht auf die transdermale MHT übertragen werden. Deswegen wird hier von dem Versuch einer Risikobewertung der verschiedenen Gestagene zum Thromboembolie- Risiko Abstand genommen.

Für das Schlaganfallrisiko spielen die Gestagene eher eine untergeordnete Rolle. Mikronisiertes Progesteron beeinflusst das Schlaganfallrisiko nicht oder wenig. Ungünstig scheinen nur die Norpregnan- Abkömmlinge (Nomegestrolacetat, Promegeston) zu sein [15].

Die Metaanalyse der weltweiten Studiendaten zu Hormontherapie und Brustkrebs aus dem Jahr 2019 zeigt, dass jede Art der Östrogentherapie mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko verbunden ist und jede Art der Kombinationstherapie mit Östrogenen und Gestagenen das Risiko noch erhöht. Der Vergleich der Gestagene Levonorgestrel, Noethisteronacetat und Medroxprogesteronacetat ergibt keinen Unterschied in der Erhöhung des Brustkrebsrisikos. Die Daten sind signifikant. Für den Vergleich mit mikronisiertem Progesteron lagen nicht genügend Daten vor [2]. Laut französischer E3N-Publikation 2008 [10] erhöht mikronisiertes Progesteron das Brustkrebsrisiko nicht zusätzlich, wie es bei anderen Gestagenen der Fall ist – das Ergebnis ist aber nicht signifikant. Ab einer Behandlungsdauer von 6 Jahren ist das BrustkrebsrisikoauchunterÖstrogen plus mikronisiertem Progesteron signifikant erhöht [16].

Sjögren [17] und Tempfer [18] kommen in zwei systematischen Reviews übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass mikronisiertes Progesteron keinen so zuverlässigen Endometriumschutz gewährleistet wie synthetische Gestagene. Die kontinuierliche Gabe von synthetischen Gestagenen im Rahmen einer kombinierten MHT erniedrigt das Risiko für Endometriumkarzinom. Das trifft bei einer sequentiellen MHT mit synthetischen Gestagenen sowie bei einer sequentiellen oder kontinuierlichen MHT mit mikronisiertem Progesteron nicht zu. Zwei Studien [19, 20] finden ein erhöhtes Endometriumkarzinomrisiko unter einer Kombinationstherapie mit mikronisiertem Progesteron unabhängig davon, ob Progesteron sequentiell oder kontinuierlich eingenommen wurde.

Magistralrezepturen statt Fertigarzneimittel
Eine US-amerikanische Studie von 2019 hat die Inhaltsstoffe von Magistralrezepturen geprüft [4]. Die Forscherinnen und Forscher haben Verordnungen von 0,5 mg Östradiol und 100 mg Progesteron an 15 Apotheken geschickt, und zwar sowohl als Kapseln zur oralen Einnahme als auch als Creme zum Auftragen auf die Haut. 13 Apotheken haben die Medikamente wie verlangt hergestellt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestimmten die tatsächliche Hormonmenge im Radioimmunassay. In den Kapseln lag die Östradiolkonzentration zwischen von 0,365 bis 0,551mg, in der Creme zwischen 0,433 und 0,55mg. Die Progesteronwerte betrugen 90,8 bis 135mg in den Kapseln und 93 bis 118mgindenCremes.Diese teilweise beträchtlichen Schwankungen veranlassten die NAMS (North American MenopauseSociety) [21]und die FDA (Food and Drug Administration)[22] zu einer Stellungnahme, in der vor einer Hormontherapie mit Magistralrezepturen gewarnt wurde, weil die Hormonkonzentrationen zu variabel und damit unzuverlässig und unsicher sind. Das hat vor allem eine Bedeutung, wenn durch zu niedrige Progesteronmengen das Endometrium nicht ausreichend vor Proliferation geschützt wird. Ein zusätzlicher, in der Studie nicht weiter beforschter Aspekt ist die fehlende Resorbierbarkeit von Progesteron durch die Haut. Ein Endometriumschutz ist bei transdermaler Anwendung von Progesteron auf keinen Fall gewährleistet.

Eine andere qualitative amerikanische Studie befasst sich mit der Motivation von Frauen, Magistralrezepturen statt Fertigarzneimittel und auch statt sog. alternativer Behandlungsmethoden zu wählen [23]. Im Rahmen einer größeren qualitativen Studie zu Partizipativer Entscheidungsfindung in den Wechseljahren wurden 21 Frauen einer Fokusgruppe, die sich für hormonhaltige Magistralrezepturen entschieden hatten, ausführlich interviewt. Zwar gab es für einzelne Frauen auch individuelle Entscheidungsgründe, im Großen und Ganzen mischten sich jedoch zwei Stränge: die „push“- und „pull“-Motivationen. Als „push“- Motivationen werden die Gründe bezeichnet, die Frauen von der konventionellen Hormontherapie und auchvondenkonventionellenAlternativtherapienwegführen.

Dazu gehören 1. Angst und Unsicherheit in Bezug auf die Arzneimittelsicherheit, 2. Eine Aversion gegen Hormone (in den USA speziell gegen konjugierte Östrogene) und 3. ein umfassendes Misstrauen gegenüber dem Medizinsystem, in welchem die Belange der Frauen zu wenig beachtet werden und die medikamentöse Therapie überbewertet wird. Mit pflanzlichen Behandlungen und Sojaproduktenwaren die interviewten Frauenunzufrieden, weil sienichteffektiv wirksam waren. „Pull“-Motivationen sind die Gründe, die eine Behandlung mit Magistralrezepturen für Frauen anziehendmacht. Dazu gehört 1. die Erfahrung, dass die Mittel wirksam sind und die Wechseljahresbeschwerden verschwinden, 2.,dassdieFrauen davon ausgehen, dass sie sicherer sind als konventionelle Hormone, 3., dass sie angeblich individuell auf jeden einzelnen Frauenkörper und das, was er braucht, zugeschnitten sind und 4., dass die Therapie von intensiver klinischer Betreuung (z. B. Untersuchung regelmäßiger Blut- oder Speichelproben)und Zuwendung begleitet ist. Hinzu kommt, dass im deutschsprachigen Raum suggestive Begriffe wie natürliche, bioidentische oder naturidentische Hormonbehandlungen von vielen Frauen und ihren Behandlerinnen und Behandlern mit diesen Magistralrezepturen assoziiert und diese Begriffe ungerechtfertigterweise vereinnahmt werden, treffen sie doch genauso auf jede konventionelle Behandlung mit 17-b-Östradiol, Östriol und Progesteron zu. Die Studie von Jennifer Thompson kommt zu dem Schluss, dass die Bedeutung der Ergebnisse zur Motivation weit über das Verständnis, warum Frauen sich für hormonhaltige Magistralrezepturen entscheiden, hinausgehen. Sie zeigen auf, wie wichtig es ist, die Prinzipien der Partizipativen Entscheidungsfindung in den klinischen Alltag zu übernehmen. Frauen sollen explizit eingeladen werden, über ihre Erfahrungen, Vorlieben und Prioritäten zu sprechen. Wenn sie damit ernst genommen werden, öffnen sie sich auch den Erklärungen der Ärztinnen und Ärzte über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Therapieoptionen.

Fazit
Eine menopausale Hormontherapie (MHT) ist die effektivste Behandlung von klimakterischen Beschwerden. Die beträchtlichen Risiken, die die WHI-Studie seit 2002 gezeigt hat, lassen Frauen − und auch viele Ärztinnen undÄrzte – vor einer Hormonbehandlung zurückschrecken. Es ist wichtig und richtig, die Nutzen-Schaden- Bilanz gründlich zu prüfen. Dazu gehört ein empathisches Anamnesegespräch, welches den Frauen Raum gibt, über ihre Erfahrungen, Sorgen und Vorlieben zu sprechen.

Für eine partizipative Entscheidungsfindung ist es wichtig, die Motivation der Frauen für oder gegen eine Hormontherapie zu kennen und zu respektieren. Informationen zu Vor- und Nachteilen sollen sachlich vermittelt werden und ohne das Bestreben, Frauen in die ein oder andere Richtung zu drängen. Wenn keine gemeinsam getragene Lösung gefunden wird, kann es auch sinnvoll sein, die Entscheidung aufzuschieben und einen weiteren Beratungstermin zu vereinbaren. Dann hat die Frau Zeit, sich zwischenzeitlich bei seriösen Quellen zu informieren. Die NAMS (North American Menopause Society) hat eine App MenoPro [24] für zwei Zielgruppen entwickelt: für betroffene Frauen und behandelnde Ärzte. Sie gibt Entscheidungshilfe für oder gegen eine Hormontherapie. Das Grundrisiko der Frauen, zum Beispiel des kardiovaskulären Risikos, wird dort auf der Basis eines definierten Algorithmus berücksichtigt. Auch die S3-Leitlinie „Peri- und Postmenopause- Diagnostik und Interventionen“ [2] liefert Ärztinnen und Ärzten detaillierte deutschsprachige Hintergrundinformationen. Ein aktueller Ratgeber „übersetzt“ die Leitlinienempfehlungen in eine allgemein verständliche Sprache und bietet Ärztinnen und Ärzten Visualisierungsmaterial für die Sprechstunde [25].

Wenn Frauen durch klimakterische Beschwerden so beeinträchtigt sind, dass sie sich für eine Hormontherapie entscheiden, sollen die verschiedenen Behandlungsoptionen besprochen werden. Für hysterektomierte Frauen ist eine alleinige Östrogentherapie am günstigsten. Bei nicht-hysterektomierten Frauen ist die transdermale Form (Pflaster oder Gel) mit weniger Risiken für kardiovaskuläre Erkrankungen verbunden als die orale Form. Bei einer kombinierten Therapie ist das Gesamtrisiko am geringsten, wenn eine transdermale Östrogentherapie (Pflaster oder Gel) mit mikronisiertem Progesteron kombiniert wird, entweder kontinuierlich oder für mindestens 12 Tage im Monat. Falls in Einzelfällen eine Therapie länger als 5 Jahre erforderlich ist, reicht Progesteron zum Endometriumschutz nicht aus.

Es ist der Datenlage nicht angemessen, die Risiken einer Hormontherapie zu leugnen oder zu verharmlosen, denn alle oben angegebenen vergleichenden Ergebnisse haben keine Beweiskraft. Sie sind „nur“ Hinweise. Da die transdermalen Östrogene kombiniert mit mikronisiertem Progesteron außerdem nicht so sicheren Endometriumschutz keine anderen Nachteile zu haben scheinen, sollten sie bei gegebener Indikation Anwendung finden. Auch Frauen mit relativen Kontraindikationen wie Übergewicht oder mildem Hypertonus können bei schwerenvasomotorischenBeschwerdendietransdermaleTherapiemitmikronisiertem Progesteron erwägen. Von einer kombinierten oralen Östrogentherapie mit synthetischen Gestagenen sollte ihnen dagegen abgeraten werden. Bei übergewichtigen Frauen muss andererseits das Risiko für Endometriumkarzinom bedacht werden.

Das Brustkrebsrisiko einer transdermalen Östrogentherapie mit mikronisiertem Progesteron kann durch die genannten Studien am wenigsten entkräftet werden. Frauen, die im Gespräch Angst vor Brustkrebs als „push“-Motivation ausdrücken, dürfen nicht beruhigt werden mit Sätzen wie: „Die heutigen Hormontherapien haben gar kein erhöhtes Brustkrebsrisiko mehr“. Das wäre eine sträflich fehlerhafte Aufklärung. Aber eine Grafik zu präsentieren, die das Brustkrebsrisiko, welches in den Köpfenmancher Frauenunrealistisch erhöht ist, relativiert, und darauf hinzuweisen, dass mikronisiertes Progesteron möglicherweise ein niedrigeres Risiko hat als die synthetischen Gestagene, das wäre schon angemessen.

Magistralrezepturen bieten keinen einzigen Vorteil gegenüber Fertigarzneimitteln, wohl aber die oben aufgeführten Nachteile. Sie sind reine Augenwischerei, indem sie eine Pseudo-Natürlichkeit und Pseudo-Individualisierung als Verkaufsstrategie benutzen und meist unseriöse Versprechungen machen.

In diesem Sinne kann die zu Anfang desArtikels gestellte Frage zuerst vertieft (z. B. „Was genau erhoffen Sie sich denn von einer Hormontherapie?) und dann differenziert beantwortet werden. Mir hat an der Meno-Pro-App besonders gefallen, dass Frauen, die nur leichte oder moderate Beschwerden haben, in einem ersten Schritt empfohlen wird, über drei Monate Lebensstilveränderungen umzusetzen. Frauen werden zum Beispiel angeleitet, einer Hitzewallung mit vertiefter Atmung zu begegnen – langsam und ruhig atmen, länger ausatmen als einatmen. Das ist eine Empfehlung, die in diesen Zeiten vermutlich für uns alle hilfreich ist.

Zusammenfassung

In den letzten Jahren hat sich die bioidentische menopausale Hormontherapie als beliebte Alternative zu synthetischen Hormonen entwickelt. „Natürliche“ bioidentische Hormone gelten als sicherer. Speziell die in Apotheken selbst zubereiteten Hormone (Magistralrezepturen) werden als Alternative zu Fertigarzneimitteln verschrieben. Es ist eine falsche Annahme, davon auszugehen, dass nur Magistralrezepturen bioidentisch sind. Auch Fertigarzneimittel wie 17-b-Estradiolundmikronisiertes Progesteron haben dieselbe chemische Struktur wie die Hormone, die in Frauenkörpern selbst hergestellt werden. Die Sicherheit von bioidentischen Hormonen ist nie gründlich untersucht worden. Deswegen haben Ärzte wenig Gesichertes in der Hand, um ihre Patientinnen zu „natürlichen“ bioidentischen Hormone zu beraten.

Dieses Review kommt zu dem Schluss, dass eine menopausale Hormontherapie (MHT) die effektivste Behandlung von menopausalen Beschwerden ist, entweder Estrogene für hysterektomierte Frauen oder Estrogene und Gestagene (inkl. Progesteron) für Frauen mit Uterus. Das kardiovaskulare Risiko hängt nicht von der chemischen Formel der Estrogene ab, sondern von dem Applikationsmodus. Transdermale Estrogene sind mit einemgeringerenRisikofürThromboembolienundSchlaganfallverbundenalsorale Estrogene. Gestagene erhöhen das Risiko. Vermutlich steigert Progesteron das Risiko für Thromboembolien nicht so stark wie synthetische Gestagene. Generell ist das Risiko einer MHT für kardiovaskuläre Erkrankungen geringer für junge Frauen im Vergleich zu Frauen über 60 Jahre. Das Risiko für Thromboembolien ist am höchsten in den ersten zwei Jahren der Hormoneinnahme. Das Brustkrebsrisiko folgt anderen Prinzipien. Frauen, die früh mit einer Hormoneinnahme beginnen, haben ein höheres Risiko als ältere Frauen. Das Risiko ist umso höher, je länger die Hormone eingenommen werden. Alle Arten der Estrogene erhöhen das Brustkrebsrisiko, unabhängig vom Applikationsmodus (außer eine niedrig dosierte vaginale Östrioltherapie). Der Zusatz von Gestagenen steigert das Risiko noch. Möglicherweise ist die Risikoerhöhung unter mikronisiertem Progesteron nicht so ausgeprägt wie unter synthetischen Gestagenen, aber das Evidenzlevel ist niedrig. Nach den derzeitigen Erkenntnissen scheint die transdermale ÖstrogentherapieplusmikronisiertemProgesteroneinederbestenTherapieregimegegenWechseljahresbeschwerdenzusein.

Es gibt jedoch keinerlei Hinweise dafür, dass Magistralrezepturen sicherer oder wirksamer sind als Fertigarzneimittel. Im Gegenteil unterliegen in Apotheken zusammengemischte Hormonprodukte keinerlei Qualitätskontrolle. Auf die Hormonmenge ist kein Verlass, sie können unerwünschte Beimengungen enthalten, und diese Therapien verschlingen oft unangemessene Summen von Geld. Frauen und ihre Ärztinnen und Ärzte sollten über die Risiken von Magistralrezepturen informiert werden, zumal sie gegenüber Fertigarzneimitteln keinen Zusatznutzen haben, und es auf dem Markt genügend Auswahl an Fertigarzneimitteln gibt.

Schlüsselwörter: Hormone – transdermale Östrogene – Progesteron – Hormonersatztherapie – Brustkrebs – Thrombose – Schlaganfall – Magistralrezeptur

Summary

What are the advantages and disadvantages ofmenopausal hormone therapy (MHT)with “bioidentical“ hormones?
M. J. Beckermann

In recent years, bioidentical menopausal hormone therapy has emerged as apopular alternative to synthetic hormones. There is the belief that the “natural“ or bioidentical hormones − especially compoundedhormones − are a safer alternative to manufactured products. It is a wrong assumption to think that only compounded hormones are bioidentical. Pharmaceuticals like 17-b-Estradiol and micronized progesterone have the same chemical formula as thehormones that are produced in women’s bodies. The safety of bioidentical menopausal hormones has never been studied with any rigor. So, doctors cannot adequately advise patients seeking “natural“ bioidentical hormone therapy. This review finds that menopausal hormone therapy is themost effective treatment available for menopausal symptoms, either estrogen for hysterectomized women or estrogen and progestin (incl. progesterone) for women with a uterus. Cardiovascular risks are not depending on the chemical formula of estrogens but on the route of administration. Transdermal estrogens are associated with a lower riskof thromboembolism and stroke thanoral estrogens. Progestin increases the risk. Progesteronemay increase the cardiovascular risk, but not as much as synthetic progestins. The cardiovascular risks of MHT are lower for younger women than for women over 60. The risk of thromboembolism is the highest in the first two years of treatment. The risk for breast cancer follows other principles. Women who start the MHT at an early age are at higher risk. The longer the treatment, the higher the risk. Every estrogentherapy increases the risk of breast cancer (except lowdose vaginalestriol therapy). The addition of progestin augments the risk further. It seems as if the risk of estrogen plus progesterone is less than the risk of estrogen plus synthetic progestin, but the evidence is low. There is evidence demonstrating that transdermal estrogen associated with natural micronized progesterone represents one of the optimal MHT regimens. However, there is no evidence that − compared to pharmaceuticals − compounded hormones are safer or more effective. On
the contrary, compounded bioidentical MHT is not subject to any quality control. The amount of hormones may vary, they may contain undesirable additives, often costing vast sums ofmoney. Doctors and female patients should be made aware of the potential dangers of compounded hormones.

Keywords: hormones − transdermal estrogens − progesterone − hormone replacement therapy − breast cancer − thrombosis − stroke − extemporaneous prescription

Interessenkonflikt:
Die Autorin erklärt, dass bei der Erstellung des Beitrags keine Interessenkonflikte im Sinne der Empfehlungen des International Committee of Medical Journal Editors bestanden.

Korrespondenzadresse:
Dr.med.Maria J. Beckermann
Frauenärztin – Psychotherapeutin
Buchenweg 9
50765 Köln
Tel.: 0221-9591062
m.j.beckermann@t-online.de

Slide Welche Vor- und Nachteile hat die Menopausale Hormontherapie (MHT)mit „Bioidentischen“Hormonen? Gyne 02/2021

Literatur:

1. Manson J et al. Menopausal hormone therapy and health outcomes during the intervention and extended poststopping phases of theWomen’s Health Initiativerandomizedtrials. JAMA2013; 310: 1353–68
2. S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), Peri- und Postmenopause – Diagnostik und Interventionen, https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-062.html
3. Collaborative Group on hormonal factors in breast cancer, Type and timing of menopausal hormone therapiesan and breast cancer risk: individuell participant metaanalysis of the worldwide epidemiological evidence. Lancet 2019; 394(10204):1159–68
4. Stanczyk FZ et al.Determination of estradiol and progesterone content in capsules and creams from compounding pharmacies. Menopause 2019, 26(9): 966–71
5. Shufelt Ch & Manson JA. Managing Menopause by Combining Evidence with Clinical Judgement. Clin Obstet Gynecol 2018; 61(3): 470–9

Vollständige Literatur unter:
https://medizin.mgo-fachverlage.de/gyne/literatur-gyne/

Gyne 03/2021 – Vulvodynie – Die Behandlung in der Frauenarztpraxis mit der Patientin gemeinsam gestalten!

Gyne 03/2021

Vulvodynie – Die Behandlung in der Frauenarztpraxis mit der Patientin gemeinsam gestalten!

Autorin:

Dr. med. Andrea Hocke

Einleitung

Vulvodynie ist eine Erkrankung, die in der Versorgung sowohl Patien- tinnenals auch Ärztinnenund Ärzte frustrieren kann. Das typische Er- scheinungsbild einer Vulvodynie ist ein chronisches, meist schmerzhaftes Missempfinden über mehr als drei Monate im Bereich der gesamten Vulva oder nur im Bereich des Scheidenvorhofs (Vestibulum). Einer spezifischen Erkrankung kann es in der Regel nicht zugeordnet werden. Die Schmerzstärke und die Frequenz des Auftretens der Schmerzen variieren stark.

In der Regel haben Frauen, die an Vulvodynie leiden, bereits Praxen mehrerer Fachrichtungen aufgesucht und sich Behandlungsversuchen unterzogen, ohne jedoch eine Besserung des Beschwerdebildes zu erleben. Oft haben sie über lange Zeit Antimykotika oder Antibiotika erhalten, obwohl nicht immer eine pathologische Besiedlung vorlag. Die oftmals erhebliche Einschränkung der Lebensqualität ist die Regel.

Fallbeispiel 1
32-jährige Patientin hat seit zwei Jahren Schmerzen und Brennen im Bereich der Vulva. Unter der Annahme einer Pilzinfektion erfolgte eine lokale Behandlung, wodurch es nur kurzfristig zur Besserung kam. Nach erneuter Zunahme der Beschwerden mehrfache lokale antimykotische Behandlung. Anschließend Behandlung mit Antibiotika bei Nachweis von E. coli im Vaginalabstrich. Jetzt auch Beschwerden beim Wasserlassen und Vorstellung beim Urologen. Eine längerfristige prophylaktische Antibiotikaeinnahme wurde empfohlen. Wegen der Schmerzen im Bereich der Vulva auch Vorstellung beim Dermatologen. Dort Empfehlung zur lokalen Cortisonbehandlung. Lokale Behandlungen mit Pflegecremes und Milchsäurekuren wurden durchgeführt. Die Beschwerden persistierten. Die Patientin wechselte mehrfach die gynäkologische Behandlung. Das Störungsbild der Vulvodynie wurde nicht erläutert und mit der Patientin nicht als alternative Diagnose diskutiert. Die Patientin fand letztendlich Informationen über die Vulvodynie im Internet.

Symptomatik und Diagnostik

Es gibt keine exakten Daten zur Häufigkeit des Auftretens einer Vulvodynie. In internationalen Studien variieren die Zahlen zwischen 10 % und 28 % [1, 2]. Das Erkrankungsalter liegt zwischen 16–60 Jahren, wobei bei Beschwerden nach der Menopause das urogenitale Menopausensyndrom im Vordergrund steht.

Definition Vulvodynie

Bereits 1880 wurde der Scheidenschmerz in der Fachliteratur beschrieben. 2015 wurden in einem Konsensuspapier mehrerer internationaler Fachgesellschaften Terminologie und Klassifikation des persistierenden Scheidenschmerz und der Vulvodynie vereinheitlicht ([3],  Tab. 1).

Man unterscheidet zwei Typen von Vulvodynie, die wiederum vom Vulvaschmerz abgegrenzt werden:
– „Provozierte“ Vulvodynie, wobei der Schmerz durch Provokationim Bereich des Scheidenvorhofs entsteht, oft vor dem Hymenalsaum (PVD, Ehemals: Vestibulitis-Syndrom, meist bei jüngeren Frauen)
– Eine generalisierte Form, die den gesamten Bereich der Vulva betrifft und mit einem dauerhaften Mißempfinden einhergeht, auch ohne Provokation (GVD)

Erkenntnisse zur Ursache der Vulvodynie

Immer noch sind die Ursachen für das Entstehen einer Vulvodynie un- klar, und man geht von einem multifaktoriellen Geschehen aus [4]. Meist ist die Vulvodynie eine Ausschlussdiagnose. Als Auslöser werden oftmals vulvovaginale Infektionen mit anschließend häufig wiederholten lokalen Behandlungen identifiziert.

Histologische Untersuchungen zeigen eine Neuroproliferation im Bereich des Vestibulums. Ebenso finden sich vermehrt Lymphozyten, Mastzellen und proinflammatorische Zytokine. Allerdings sind diese Veränderungen nicht beständig in allen Studienergebnisse zu finden. Auch hormonelle Zusammenhänge werden diskutiert. So berichten Frauen häufig von unterschiedlichen Schmerzintensitäten im Verlauf des Zyklus. Aber auch hier findet sich kein einheitliches Bild. Bei gehäuftem Auftreten innerhalb Familien wird auch eine genetische Prädisposition diskutiert.

Anamneseerhebung

Frauen berichten von starken brennenden oder stechenden Schmerzen im Bereich der Vulva. Auch Juckreiz kann ein Symptom sein. Die Intensität und die Schmerzdauer variieren. Ganz entscheidend für die Diagnosestellung ist eine ausführliche Anamnese zu folgenden Punkten:

Entstehen und Verlauf der Schmerzentwicklung

  • Schmerzbeginn
  • Schmerzdauer- und Intensität (Schmerzskala 0–10; 0 = kein Schmerz, 10 = stärkster vorstell- barer Schmerz)
  • Schmerzwahrnehmung (z. B. brennend, juckend, stechend, dumpf)
  • Zyklische Veränderung der Schmerzintensität
  • Schmerzintensität im Tagesver- lauf
  • Zusammenhänge zwischen In- tensität und Bewegung (z. B. Fahrradfahren)
  • Zusammenhänge mit psychi- schen Belastungen
  • Was verändert den Schmerz (Positiv/Negativ) ?
  • Einführen von Tampons möglich?
  • Hilfreich: Schmerzfragebogen, Modul für viszerale und urogeni- tale Schmerzen(Frauen) der Deut- schen Schmerzgesellschaft [5]

Sexualanamnese [6]

  • „Wie sind Sie mit Ihrem Sexualle- ben zufrieden?
  • Beschreibungder Problematikbe- dingt durch Schmerzen, Schmerz- beginn.
  • Reaktion des Partners auf die Stö- rung, Auswirkung auf die Part- nerschaft
  • Sexualität vor Beginn der vulvä- ren Schmerzen
  • Einstellung zur Masturbation, oralem Sex

Fast immer wird bei Vulvodynie die Penetration als schmerzhaft erlebt [7]. Auch das Lustempfinden ist eingeschränkt, da das Erleben von Sexualität nie frei von Angst und Anspannung ist [8]. Immer wieder berichten Frauen, die an Vulvodynie erkrankt sind, von Schuldgefühlen gegenüber dem Partner. Oft kommt der Satz: „Ich habe Angst, dass mein Partner das nicht mehr lange mitmacht“.

Fallbeispiel 2
Dies zeigt, wie wichtig eine exakte Anamnese zum Erfassen von Differentialdiagnosen ist. Eine 26-jährige Patientin mit den typischen Beschwerden einer Vulvodynie und den typischen Behandlungsansätzen, die nicht zu einer Besserung führten. Befragt nach ihrem Sexualleben berichtete sie, dass sie mit 20 Jahren das erste Mal Geschlechtsverkehr gehabt habe und Gewalt in der Beziehung erlebt habe. In einer jetzt neuen Partnerschaft erlebe sie viel Wertschätzung, habe aber Angst vor der Penetration, die immer schmerzhaft sei. Sie gab an, dass sie sich bei den Ärzten nie getraut habe, über dieses Thema zu sprechen, aber auch nie gefragt wurde. Auch gegenüber ihrem Partner sei es einfacher, über unklare Schmerzen als über die Angst zu sprechen. Diagnostisch handelte es sich in diesem Fall um eine Dyspareunie, also um nicht organisch bedingte Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, und nicht um eine Vulvodynie.

Häufige Komorbiditäten
(z. B. andere chron. Schmerzsyndrome, z. B. Fibromyalgie, chronisches Beckenschmerzsyndrom, Reizdarm, -blase, Kiefergelenkstörung, Kopfschmerzen, Zähneknirschen)

Psychosoziale Anamnese

  • Aktuelle Belastungen
  • Gewalterfahrungen
  • Selbstfürsorge

Viel zu selten wird in den Anamnesen nach Gewalterfahrungen gefragt. 20–25 % der Frauen erleben sexuelle Gewalt im Erwachsenalter. Aber auch in der Kindheit erlebte Gewalterfahrungen führen, neben psychischen Erkrankungen, nicht selten auch zu Schmerzsyndromen [9]. Die Frage „Haben Sie in Ihrem Leben Gewalterfahrungen gemacht?“ gehört so in jede Anamneseerhebung.

Allgemeine medizinische Anamnese

  • Psychische   Vorerkrankungen (z. B. Angsterkrankung, Depression, Somatisierungsstörung)
  • Psychotherapieerfahrung
  • Medikamenteneinnahme (z. B. Pille, Psychopharmaka, Antibiotika, Antimykotika, Medikation zur lokalen Anwendung im Bereich Vulva)
  • Funktionsstörungen der Blase oder des Darms
  • Ess- und Trinkgewohnheiten(z. B. Zuckerkonsum, Trinkmenge, Alkoholkonsum)
  • Allergien (z. B. Lebensmittel)
  • Lebensmittelunverträglichkeiten (z. B. Fruktoseintoleranz)
  • Rez. Infekte (z. B. Blase, Pilzinfektionen, allgemeine Infektanfälligkeiten)
  • Hauterkrankungen (z. B. Neurodermitis)

Gynäkologische Untersuchung

Der oft schmerzhafte Geschlechtsverkehr und auch die Erfahrung, dass es bei und nach einer Untersuchung wieder zu Schmerzen kommt, führen in der Regel dazu, dass die Untersuchung auf Seiten der Patientin mit Angst verbunden ist. Das genaue Erklären der Untersuchungsschritte und auch die Eigeninspektion mit einem Handspiegel während der Untersuchung können der Patientin Sicherheit geben und dienen der Aufklärung. Patientin und Arzt/Ärztin arbeiten so als Team. Das Gefühl des Ausgeliefertseins tritt in den Hintergrund, und Ängste können schon bei der Untersuchung genommen werden. So kann z. B. erläutert werden, dass eine von der Patientin als Riss gedeutete Schleimhautveränderung nur eine Unebenheit im Schleimhautrelief ist. In den meisten Fällen kann man bei der Untersuchung keine makroskopischen Auffälligkeiten finden. Manchmal zeigen sich Rötungen, die aber insgesamt auch bei Frauen ohne Vulvodynie zu finden sind.

Im Rahmen der ausführlichen In pektion sollte unbedingt der „Wattestäbchen-Test“ (Abb. 1) durchgeführt werden.

Der gesamte anogenitale Bereich und insbesondere das Vestibulum werden mit dem Wattestäbchen abgetastet. So ist es der Patientin möglich, die Schmerzpunkte genau anzugeben. Auch zeigt sich, ob der Schmerz auslösbar ist durch Berührung oder ob er auch ohne Provokation besteht. Sehr häufig findet sich der Hauptpunkt des Schmerzes im Bereich der hinteren Kommissur zwischen 5–7 Uhr vor dem Hymenalsaum. Eine Untersuchung mit Spekula (ggf. Kinderspekula) und auch eine manuelle vaginale Palpation sollten durchgeführt werden, wenn es die Patientin zulässt. So kann festgestellt werden, ob es sich um ein vaginales Schmerzproblem, muskuläre Beckenbodendysfunktionen oder Schmerzen im kleinen Becken im Sinne eines chronischen Beckenschmerzsyndroms handelt.

Bei der Erstvorstellung sind die Entnahme eines zytologischen Abstrichs oder eines Frischpräparates und ein mikrobiologischer Vaginalabstrich sinnvoll. In der Regel wird das Ergebnis einen Normalbefund zeigen. Aber dies wird für die Patientin hilfreicher sein, die Krankheit zu verstehen, als die schlichte Aussage „Es sieht alles normal aus.“ Auch eine Bestimmung des  Scheiden-pH (< 4,5) sollte erfolgen. Insbesondere nach häufiger lokaler Anwendung von Antimykotika oder Antibiotika kann es zu einer Dysbalance des Scheidenmilieus kommen.

Fallbeispiel 3

37-jährige Patientin hat seit einem Jahr Schmerzen im Bereich der Vulva. Wie so oft erfolgten auch bei ihr mehrfache antimykotische und antibiotische Behandlungen, die nicht zu einer Linderung führten. Bei der gynäkologischen Untersuchung fand sich im Wattestäbchen-Test keinerlei Schmerz im Bereich von Vulva/Vestibulum. Bei der Palpation der Vagina gab die Patientin einen ausgeprägten Schmerz (Schmerzskala = 9) im Bereich der posterioren Vaginalwand an. Sie brach in Tränen aus. Sie berichtete auch von starken Nacken- und Kopfschmerzen. Seit kurzem habe sie eine Beißschiene, da sie stark mit den Zähnen knirsche. Sie könne sich im alltäglichen Leben als berufstätige Mutter von drei Kindern nie entspannen, habe immer das Gefühl, nicht zu genügen. Entspannungsmethoden kenne sie nicht. Zeit für Selbstfürsorge bleibe nicht. Sie habe seit vielen Jahren Durchschlafprobleme. In diesem Fall ist aufgrund der Gesamtproblematik am ehesten ein chronisches Beckenschmerzsyndrom zu diskutieren.

Therapieoptionen (Tab. 2)

Die Behandlung der Vulvodynie erfordert in der Regel ein multimodales Behandlungskonzept. Im Rahmen von zumeist nicht randomisierten Studien mit kleinen Fallzahlen werdenverschiedene Behandlungsmöglichkeiten aufgezeigt, die in der gynäkologischen Praxis oft nur schwer umzusetzen sind. Auch ist es nicht so leicht, für diese Behandlungsmöglichkeiten die richtigenAnsprechpartner zu finden. Zunächst sollten nicht invasive Verfahren angewendet werden [1]. Mit den Patientinnen muss besprochen werden, dass die Behandlungserfolge stark variieren können.

Antidepressiva wie Amitriptylin und Duloxetin, oder Antikonvulsiva wie Gabapentin und Pregabalin können wie auch bei anderen chronischen Schmerzsyndromen zum Einsatz kommen. Patientinnen stehen dieser Medikation zumeist eher ablehnend gegenüber, da sie Angst vor Nebenwirkungen haben und die Einnahme eines Psychopharmakons oft nicht nachvollziehen können.

Fallbeispiel 4

39-jährige Patientin mit einschießenden Schmerzen im Bereich der Vulva seit 5 Monaten. Die Schmerzen traten vor allem im Sitzen auf. Im Rahmen von gynäkologischen und orthopädischen Vorstellungen seien Normalbefunde erhoben worden. Ibuprofen, Novaminsulfon und Östrogencreme wurden verordnet, es kam nicht zur Besserung. Im Rahmen einer neurologischen Vorstellung wurden unter dem Aspekt eines neuropathischen Schmerzes Gabapentin 1.200 mg und Amitriptylin 25 mg als Startdosis verordnet. Unter der Medikation starke Benommenheit und Schwindel, die Patientin setzte die Medikation ab. MRT Becken unauffällig. Erneute Notfalleinweisung zur stat. Aufnahme, nachdem sie sich wieder mit starken Schmerzen beim Hausarzt vorgestellt hatte. Die gynäkologische Untersuchung war unauffällig, kein Anhalt für eine vulväre Ursache der Schmerzsymptomatik. Die Patientin war psychisch instabil, berichtete über Ein- und Durchschlafstörungen. Beginn einer Medikation mit Pregabalin 3 x 50 mg und Mirtazapin 7,5 mg zum Schlafanstoß. Darunter Schmerzlinderung und verbesserter Schlaf. In der neurologischen Untersuchung wurde der Verdacht auf eine Pudendusneuralgie geäußert. Empfehlung : Schmerz- und Physiotherapie.

Zu Missempfindungen durch ein Gefühl der Trockenheit kann es auch bei der Einnahme von niedrig dosierten hormonellen Kontrazeptiva kommen. Ein Auslassversuch sollte bei Frauen mit Vulvodynie in Erwägung gezogen werden. Auch wenn eigentlich kein Zusammenhang herzustellen ist zwischen Intrauterinpessar und Vulvodynie, kann doch mit der Patientin erörtert werden, ob eine Entfernung des Intrauterinpessars eventuell eine Linderung der Beschwerden bringen könnte.

Wenn Juckreiz im Vordergrund steht, kann eine Behandlung mit Antihistaminika versucht werden.

Die Vestibulektomie stellt eine operative Behandlungsmöglichkeit der provozierten Vulvodynie (PVD) dar. In den Studien zeigen sich gute Behandlungserfolge. Standardisierte Empfehlungen zu Operationstechniken für die verschiedenen Typen der Vulvodynie oder einheitliche Kriterien für die Beurteilung der Ergebnisse nach den Operationen fehlen allerdings [11]. Ein operativer Eingriff sollte nur dann versucht werden, wenn alle anderen Behandlungsmöglichkeiten versagen.

Beschrieben werden auch gute Behandlungserfolge mit CO2-Laser-Therapie [12]. Diese Behandlungsstrategie kann zurzeit noch nicht in der Routine empfohlen werden. Weitere Studien müssen folgen.

Einen hohen Stellenwert in der Behandlung der Vulvodynie hat die Physiotherapie des Beckenbodens. Betroffene Frauen geben sehr häufig eine Überempfindlichkeit und Schmerzen im Bereich des Beckenbodens an, bedingt durch Anspannung und damit verbundene Verkürzung der Muskeln in diesem Bereich. Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder Symptome der Reizblase sind häufige Folgen. Im Rahmen der Physiotherapie lernen Frauen zunächst, ihren Beckenboden überhaupt wahrzunehmen, um den Unterschied zwischen An- und Entspannung zu erkennen. Dehnungsübungen für die Muskeln der Beckenregion sind ein weiterer wichtiger Bestandteil. Biofeedback, Elektrostimulation und auch Stoßwellentherapie können die Übungen ergänzen. In mehreren Studien zu diesen Verfahren konnte ein deutlicher Rückgang der Beschwerdesymptomatik festgestellt werden [13, 14]. Auf der Internetseite der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologie, Geburtshilfe, Urologie, Proktologie, Verband der Deutschen Physiotherapeuten findet man in einer Liste Therapeuten, die sich auf das Thema spezialisiert haben [15].

Auch Akupunktur und Neuraltherapie kann in Einzelfällen Entlastung bringen [16].

Gerade unter dem Aspekt der Selbstfürsorge und Entspannung sollten Empfehlungen zu Entspannungsmethoden (z. B. Yoga, autogenes Training), Achtsamkeitstraining [17] und auch Meditation in jedem Vulvodynie-Behandlungsplan enthalten sein.

Die Bedeutung des bio-psycho-sozialen Schmerzmodells (Abb. 2, S. 43)

„Mein Arzt sagt, es ist die Psyche“. Mit diesem Satz stellen sich oft Frauen mit Vulvodynie in unserer Sprechstunde vor. Sie berichten von Angstsymptomen, depressiver Verstimmung, Schlafstörungen. Das Sexualleben ist wegen der Schmerzen und der Angst vor den Schmerzen stark eingeschränkt. Häufig sieht man in der Sprechstunde Frauen mit einem hohen Leistungsanspruch an sich selbst. Zeit für Selbstfürsorge und Förderung von Ressourcen gibt es nicht. Die Kriterien einer psychischen Störung nach der ICD-10 Klassifikation sind allerdings in der Regel nicht erfüllt.

Zum besseren Verständnis für die Patientin können die Zusammenhänge bei der Krankheitsentstehung anhand des biopsychosozialen Schmerzmodells gut erklärt werden. Die psychotherapeutische Begleitung ist wie bei allen chronischen Schmerzsyndromen zu empfehlen. Viele Untersuchungsergebnisse gibt es zur kognitiven Verhaltenstherapie [18]. Negative Überzeugungen und Gedankenmuster können im Rahmen der Therapie erkannt und auch verändert werden.

Psychische Erkrankungen in der Bevölkerung sind häufig. Die Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland zeigte, dass ca. ein Drittel der deutschen Bevölkerung (18–79 Jahre) eine psychische Erkrankung hat [19]. Im Rahmen der Anamneseerhebung sollte immer aktiv gefragt werden, ob psychische Störungen bestehen. Bedingt durch die Schmerzbelastungbei einer Vulvodynie kann es zu einer Destabilisierung der psychischen Vorerkrankung kommen. Und umgekehrt können körperliche Beschwerden auch Symptome einer psychischen Störung sein (wie etwa einer Angststörung oder einer somatisierten Depression). Zunächst mag es ungewohnt erscheinen, nach psychischen Aspekten zu fragen. Für die Patientin bedeutet dies aber in der Regel, dass es im Gespräch Raum gibt, über ihre psychische Situation zu sprechen. Über die Bedeutung des Erhebens von früheren und auch aktuellen Gewalterfahrungen wurde bereits eingegangen.

Behandlungsmöglichkeiten in der gynäkologischen Praxis

Alle vorgestellten Interventionen führen nicht unbedingt zu einer Linderung der Schmerzsymptomatik bei einer Vulvodynie. Klinische Studien mit großen Fallzahlen gibt es nicht. Erfahrene Ansprechpartner zu speziellen Therapieansätzen, wie z. B. Botulinum-Injektionen oder zur Durchführung einer Vestibulektomie, sind selten. Und ein Platz für eine Psychotherapie ist trotz der hohen Dichte von PsychotherapeutInnen in Deutschland nicht immer einfach zu finden.

In der ICD-10 findet man die Diag- nose „Vulvodynie“ nicht. Die F45.34 „Somatoforme autonome Funktionsstörung des Urogenitalsystems“, also eine Vulvodynie als reine psychische Störung, bildet die Erkrankungnicht korrekt ab. Auch die N94.8 „Sonstige näher bezeichnete Zustände im Zusammenhang mit den weiblichen Genitalorganen und dem Menstruationszyklus“ ist als Sammelbecken für unspezifische Veränderungen ebenfalls unbefriedigend bei der Diagnosevergabe.

In der ICD-11, die ab 1.1.2022 in Kraft treten soll, wird es die Diagnose Vulvodynie (GA 34.02) geben. Zwar gibt es Kritik an der Darstellung des Krankheitsbildes in der ICD-11 [20]. Aber es besteht die Hoffnung, dass sich ein anderes Bewusstseinfür die Erkrankung entwickelt, wenn es einen „offiziellen“ Namen dafür gibt. Es lohnt durchaus, mit der Patientin diesen Aspekt anzusprechen und auf die zukünftigen Entwicklungen hinzuweisen.

Die Einschränkungder Lebensqualität der Patientinnen mit Vulvodynie ist groß. Frauen berichten oft, dass sie den Eindruck haben, Ärztinnen und Ärzte, die sie aufgesucht haben, wissen nicht, was sie mit ihnen machen sollen. Man nehme die Beschwerden nicht ernst. Die Diagnose Vulvodynie sei vielen ÄrztInnen unbekannt. Dies führt bei den Patientinnen zu einem Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins und letztendlich auch zu einer Zunahme der Beschwerdesymptomatik. Die Empfehlung zu einer (erneuten) antimykotischen Medikation werde oft ohne ausführliches Gespräch und ohne erneute mikrobiologische Kontrolle ausgesprochen. Es herrscht Ratlosigkeit auf beiden Seiten. Was haben wir also für Behandlungsoptionen in der alltäglichen Routine einer gynäkologischen Praxis?

Die Erstvorstellung ist zeitaufwendig. Aber die ausführliche Anamnese ist wichtig, um das multifaktorielle Geschehen bei einer Vulvodynie zu verstehen und multimodale Behandlungskonzepte zusammen mit der Patientin zu planen. Jedes Gespräch ist bereits eine Intervention, die für die Patientin Entlastung bringen kann.

Bei der psychosomatischen Gesprächsführung stehen Wertschätzung, Normalisierung und Entpathologisierung im Vordergrund [21]. „Es gibt die Erkrankung Vulvodynie. Wir sehen häufig Patientinnen mit dieser Beschwerdesymptomatik. Eine wirkliche Ursache für diese Erkrankung ist immer noch nicht gesichert. Aber wir werden Wege finden, Ihre Beschwerden zu lindern“ Mit diesen Sätzen fühlt sich die Patientin ernst genommen. Sie ist nicht mehr allein, und sie sieht, dass es vielleicht doch Möglichkeiten einer Genesung geben kann. Nach dem langen Erstgespräch sind erfahrungsgemäß übrigens weniger Folgetermine erforderlich als sonst üblich.

Die Indikation für antimykotische oder antibiotische Behandlungen sollte sehr streng gestellt werden, und wenn überhaupt, dann nur nach mikrobiologischem Nachweis. Nicht selten lassen die Symptome in der Zeit des Wartens auf ein Ergebnis bereits nach, vor allem wenn die Patientin gut aufgeklärt wurde und ihr Möglichkeiten der nicht medikamentösen Behandlung im Rahmen der Selbsthilfe aufgezeigt wurden.

Oftmals bestehen Partnerschaftskonflikte im Rahmen der Sexualität aufgrund der Beschwerden. Ein Austausch mit dem Partner findet in der Regel nicht statt. Das Gefühl von Schuld und Scham lässt Frauen mit der Diagnose Vulvodynie und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr verstummen. Über die Probleme im Bereich der Sexualität und die Partnerschaftskonflikte zu sprechen, gelingt Frauen meistens nur, wenn wir als GynäkologInnen die Möglichkeit zum offenen Gespräch anbieten. Zumeist besteht Angst vor einer Penetration und den damit verbundenen Schmerzen. Hilfreich kann es sein, die Frauen zu ermutigen, auch andere Sexualpraktiken auszuprobieren. Ängste können gelindert werden, wenn mittels Vaginaldilatatoren (Verordnung mit Rezept), Vibratoren, Vaginalkugeln etc. zunächst wieder vorsichtig mit Vulva und Vagina Kontakt aufgenommen wird, entweder in der Selbstbehandlung oder auch im Erleben der Sexualität mit dem Partner.

In der Beratung und Behandlung sind Informationen zur Selbsthilfe überaus hilfreich [10]. So ist z. B. das Kühlen der Vulva in vielen Fällen sehr schmerzreduzierend. Phytotherapeutika können Vulvovaginalbeschwerden lindern [22]. Auch wenn es kaum Untersuchungen  zu alternativen Therapiemethoden gibt, werden in unserer Vulvodynie-Sprechstunde gute Erfolge damit erzielt. In der  Tabelle 3 (S. 44) sind viele Maßnahmen aufgelistet, die im Lauf der Zeit zusammengetragen wurden. So wurde z. B. Meersalzbad in die Liste aufgenommen, nachdem eine Patientin von Beschwerdefreiheit während eines Badeurlaubs am Meer berichtete.

Fazit für die Praxis

Als Betroffene verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen zu haben, mindert das Gefühl des Ausgeliefertseins. Die wiedererlangte Autonomie und das Wissen, dass man als Patientin ernstgenommen wird, sind positiv wirkende Faktoren. Aktives Handeln und das Erleben von Wertschätzung verbessern die Heilungschancen.

Die Zusammenarbeit mit den Patientinnen, die an einer Vulvodynie leiden, kann so doch unerwartet als sehr befriedigend erlebt werden.

Der Einsatz eines multimodalen Behandlungskonzeptes, das uns auch in der gynäkologischen Praxis zur Verfügung steht, nimmt uns als Behandelnden das Gefühl der Hilflosigkeit.

Die Behandlung einer Vulvodynie kann dann trotz aller Schwierigkeiten interessant werden und zu einem guten Erfolg führen.

Zusammenfassung

Als Vulvodynie bezeichnet man Schmerzen im Bereich der Vulva, die länger als drei Monaten anhalten. Es handelt sich um eine Ausschlussdiagnose, spezifischen Störungen der Vulva liegen nicht vor. Sehr häufig erhalten Frauen bei anhaltenden Schmerzen immer wieder Antimykotika oder Antibiotika ohne Indikation, da eine pathologische Besiedlung in der Regel nicht nachweisbar ist. Komorbiditäten sind häufig. Die Lebensqualität ist in der Regel eingeschränkt. Frauen fühlen sich zumeist hilflos und nicht ernstgenommen. Aber auch wir als Behandelnde erleben das Gefühl der Hilflosigkeit.

Zu den verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten liegen zumeist nur Beobachtungsstudien vor. Einheitliche Behandlungsempfehlungen gibt es nicht. Wie bei anderen chron. Schmerzsyndromen können, psychotherapeutische Interventionen, gezielte Physiotherapie des Beckenbodens und Entspannungsmethoden zu deutlichen Entlastungen führen. Welche  Behandlungsmöglichkeiten gibt es aber in der Gynäkologischen Praxis? Bereits die Erläuterung des Krankheitsbildes und die Mitteilung, dass die Vulvodynie bekannt und gar nicht so selten ist, bedeutet immer Entlastung, merkt die Patientin doch, dass man als Arzt/Ärztin erfahren ist mit der Erkrankung und sie in ihrer Schmerzbelastung ernstnimmt. Ebenso die Anleitung zur Selbsthilfe mit praktischen Tipps und alternativen Therapiemöglichkeiten führt sehr häufig zu einem Rückgang der Beschwerden. Die Behandlung einer Vulvodynie kann unter dem Aspekt eines multimodalen Behandlungskonzepts, das auch in der Praxis umsetzbar ist, dann unerwartet interessant werden und zu einem guten Erfolg führen.

 

Schlüsselwörter: Vulvodynie – Behandlungskonzepte – Biopsychosoziales Modell – Arzt-Patienten-Beziehung

Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass bei der Erstellung des Beitrags kein Interessenkonflikt im Sinne der Empfehlung des International Committee of Medical Journal Editors bestand.

 

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Andrea Hocke
Gynäkologische Psychosomatik
Zentrum für Geburtshilfe und Frauenheilkunde Universitätsklinik Bonn
Venusbergcampus 1
53127 Bonn

andrea.hocke@ukbonn.de
www.gynaekologische-psychosomatik.de

Slide Vulvodynie – Die Behandlung in der Frauenarztpraxis mit der Patientin gemeinsam gestalten! Gyne 03/2021

Literatur:

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2.     Harlow BL & Stewart EG. A populationbased assessment of chronic unexplained vulvar pain: have we underestimated the prevalence of vulvodynia? J Am Med Womens Assoc (1972). 2003 Spring; 58(2): 82–8
3.     Bornstein J.et al. 2015 ISSVD, ISSWSH and IPPS Consensus Terminology and Classification of Persistent Vulvar Pain and Vulvodynia. Obstet Gynecol 2016; 127(4): 745–751
4.     Pukall CF et al. Vulvodynia:Definition, prevalence,impact and pathophysiological factors. J Sex Med 2016; 13(3): 291–304
5.     Modul für viszerale und urogenitale Schmerzen-Frauen. Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. 2015 https://www.schmerzgesellschaft.de/schmerzfragebogen
6.     Buddeberg C. Sexualberatung. Eine Einführung für Ärzte, Psychotherapeuten und Familienberater. Stuttgart: Thieme 2005
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10.     Vulvodynia. A self help guide National Vulvodynia  Association  2016  https:// www.nva.org/publications/self-help-guides/
11.     Tommola P et al. Surgical treatment of vulvar vestibulitis: a review. Acta Obstet Gynecol Scand 2010; 89(11): 1385–95
12.     Murina F et al. Fractional CO2 Laser Treatment of the Vestibule for Patients with Vestibulodynia and Genitourina- ry Syndrome of Menopause: A Pilot Study. J Sex Med 2016; 13(12): 1915–1917
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15.     https://www.ag-ggup.de/
16.     Schlaeger J et al. Acupuncture for the treatment of vulvodynia: a randomized wait-list controlled pilot study. J Sex Med 2015; 12(4): 1019–27
17.     www.mbsr-verband.de
18.    Bergeron S et al. A randomized clinical trial comparing group cognitive-behavioral therapy and a topical steroid for women with dyspareunia. J Consult Clin Psychol 2016; 84(3): 259–68
19.   Jacobi F et al. Twelve-month prevalence, comorbidity and correlates of mental disorders in Germany: the Mental Health Module of the German Health Interview and Examination Survey for Adults (DEGS1-MH). Int J Methods Psychiatr Res 2014; 23(3): 304–19
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21.   Rohde A et al. Psychosomatik in der Gynäkologie Kompaktes Handeln-Konkretes Wissen. Stuttgart. Schattauer 2017
22.   Widmer R. Einsatz von Phytotherapeutika bei Vulvovaginalbeschwerden. Schweiz Z Ganzheitsmed 2017; 29: 22–24

Gyne 08/2021 – Stress auf den letzten Metern? – Fetale Gewichtsschätzung in Terminnähe und deren Bedeutung für Schwangere

  • 17. Februar 2022
  • Gyne

Gyne 08/2021

Stress auf den letzten Metern? – Fetale Gewichtsschätzung in Terminnähe und deren Bedeutung für Schwangere

Autorinnen:

J. Maeffert, K. Jahncke, C. Loytved

Gewichtsschätzung am Termin– Wer will was und warum wissen?
In den Mutterschaftsrichtlinien wird eine fetale Gewichtsschätzung um den errechneten Geburtstermin (ET) bei einer unauffälligen Schwangerschaft nicht empfohlen [1]. Häufig wird dennoch auch bei komplikationslosen Schwangerschaften anlässlich der wöchentlichen Routineuntersuchungen zwischen Schwangerschaftswoche 38 und 40 eine fetale Gewichtsschätzung per Ultraschall in der ärztlichen Praxis durchgeführt. Liegt das Gewicht im von der Schwangeren und der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt erwarteten Rahmen, ist es für alle Beteiligten eine angenehme Bestätigung des weiterhin problemlosen Verlaufs. Welche Überlegungen werden aber angestellt, wenn das Gewicht deutlich von der Erwartung abweicht?

Schwangere werden häufig vor der Untersuchung nicht ausreichend darüber informiert, dass der Ultraschallbefund nur einen Schätzwert generiert und nicht eine tatsächliche Gewichtsmessung darstellt. Die möglichen Konsequenzen bei Abweichungen werden nicht im Vorhinein besprochen. Vielmehr entscheiden die Untersuchenden meist erst nachdem das Ergebnis vorliegt, wie sie damit umgehen. Und auch viele Schwangere fragen nicht im Vorhinein, welche Ergebnisse welche Konsequenzen nach sich ziehen könnten.

Liegt beispielsweise das geschätzte Gewicht des Ungeborenen bei 4.200 g, kann vor dem inneren Auge der Schwangeren ein zu großes Kind erscheinen, welches bei ihr unterschiedliche Ängste um den Geburtsverlauf auslöst. Die Ärztin oder der Arzt, der den Ultraschall durchgeführt hat, mag an die Gefahr einer Schulterdystokie denken. Liegt das geschätzte Gewicht am Termin dagegen bei 2.400 g, stehen andere Ängste und Gefahren im Raum. Sind sich alle Beteiligten indes vor der Untersuchung im Klaren darüber, dass es Abweichungen von mehreren 100 g zum tatsächlichen Gewicht geben kann, wäre ein Kind von 3.900 g bzw. 2.700 g kein Grund zur Besorgnis.

Unbestritten ist, dass das tatsächliche Geburtsgewicht ein Prädiktor für die neonatale und maternale Morbidität ist [3, 6] und die Genauigkeit der Gewichtsschätzung durch Verbesserung von Technik und Ausbildung verbessert werden kann [3, 4]. Bei Auffälligkeiten im Schwangerschaftsverlauf sind der Wert von Ultraschallkontrollen und die Ableitung von Empfehlungen zum Vorgehen in spezialisierten Zentren von erfahrenen Untersuchern sinnvoll. Bei unauffälligen Schwangerschaftsverläufen ist für die Praxisroutine jedoch zu hinterfragen, ob eine eigentlich unnötig produzierte Grammzahl auf dem Monitor nicht zu einer Verunsicherung der Schwangeren und vermeidbaren Konsequenzen führen könnte. Sicherlich spielt das ärztliche Bedürfnis, eine mögliche fetale oder maternale Gefährdung nicht zu übersehen, bei der Untersuchung auch eine Rolle.

Infokasten I. ICI: Schritt 7
In den 12 Schritten der International Childbirth Initiative (ICI, Kurzfassung) besagt der Schritt 7: „Vermeiden Sie potenziell schädliche Verfahren und Praktiken, bei denen der Nutzen unzureichend nachgewiesen ist und das Risiko eines routinemäßigen oder häufigen Gebrauchs überwiegen würde“ („Avoid potentially harmful procedures and practices that have insufficient evidence of benefit outweighing risk for routine or frequent use in normal pregnancy, lobour, birth and the post-partum and neonatal period.“) [13].

Falls eine Gewichtsschätzung um den errechneten Termin herum erfolgt, muss es dafür eine Indikation geben. Es sollte auf eine achtsame Kommunikation Wert gelegt werden und die Schwangere schon im Vorfeld über die Messtoleranz und beeinflussende Faktoren aufgeklärt werden. Eine fetale Gewichtsschätzung, insbesondere eine nichtindizierte, ist eine Intervention, die negative iatrogene Folgen haben kann (Infokasten I,Abb. 1).

AWMF-Leitlinienempfehlungen zur Einleitung wegen Makrosomie oder SGA/IUGR
In der AWMF-Leitlinie „Geburtseinleitung“ wird die konsensbasierte Empfehlung gegeben, dass Schwangeren bei dem Verdacht auf einen LGA-Fötus >95. Perzentile ab 39+0 zur Vermeidung einer Schulterdystokie eine Geburtseinleitung angeboten werden sollte.  Es wird dabei auf die Schwierigkeit der Diagnose durch verschiedene Einflussfaktoren hingewiesen [11] (_ Tab. 1, S. 18).

In der AWMF-Leitlinie „Intrauterine Wachstumsrestriktion“ heisst es, dass SGA-Feten zu 70% konstitutionell klein sind und ein normales perinatales Outcome haben. Es wird bei einem isolierten SGA-Fötus die Empfehlung gegeben, dass eine Terminüberschreitung vermieden werden und eine Geburtseinleitung ab 38+0 in Erwägung gezogen werden sollte. Dabei „sollen die Eltern in alle Entscheidungen einbezogen werden und die Konsequenzen der verschiedenen Optionen dargelegt werden“ [6]. Bei Auftreten von Zusatzkriterien, die das Vorliegen eines IUGR-Föten nahelegen, werden je nach Schweregrad unterschiedliche Empfehlungen zum Zeitpunkt der Geburtseinleitung gegeben [12] (Tab. 2, S. 18).

Einflussfaktoren auf das fetale Gewicht
Zu den Faktoren, die das fetale Gewicht beeinflussen, gehören das Geschlecht des Kindes und die ethnische Herkunft der Mutter. So unterscheiden sich etwa männliche und weibliche Föten auf der 50. Perzentile in der 40. SSW in ihrem Gewicht um rund 180 g. Etwas weniger Bedeutung kommt den maternalen Faktoren Größe, Gewicht, Alter und Parität zu [7].

Die Masterarbeit „Zu viel gemessen? Der Ultraschall ist keine Waage.“
Die Masterarbeit geht von der Hypothese aus, dass Schwangere durch eine ärztliche Gewichtsschätzung mittels Ultraschalluntersuchung verunsichert werden können.

Das Hauptaugenmerk der Arbeit liegt auf der fetalen Gewichtsschätzung in Terminnähe. Es erfolgten problemzentrierte, leitfadengestützte Interviews mit sechs Frauen, die qualitativ nach Mayring ausgewertet wurden. Alle Frauen hatten eine risikoarme Einlingsschwangerschaft. Die Frauen wurden danach rekrutiert, welche Prognose zum fetalen Gewicht bei der Ultraschalluntersuchung abgegeben worden war. Zwei der Befragten hatten nach dem Ultraschall die Prognose SGA-Säugling erhalten, zwei Frauen, die für einen LGA-Säugling und zwei Frauen, die für einen AGA-Säugling. Das Ergebnis war, dass Frauen, bei denen im Schwangerschaftsverlauf bei vorherigen Ultraschalluntersuchungen Besonderheiten aufgetreten waren, den Ultraschall mit Gewichtsschätzung in Terminnähe eher als beruhigend empfanden. Diejenigen Frauen, deren Schwangerschaften bisher unauffällig verliefen, empfanden die Gewichtsschätzung als eher belastend. Alle Frauen, die aufgrund der Gewichtsschätzungen die Empfehlung zur baldigen Geburtsbeendigung erhielten, zeigten eine hohe Stressbelastung.

Dabei spielte insbesondere die ärztliche Kommunikation eine große Rolle. Viele fühlten sich schlecht aufgeklärt und von Empfehlungen überrumpelt. Insbesondere kam dies vor, wenn die Untersuchung in der Geburtsklinik durchgeführt wurde und die Schwangere dieÄrztin oder den Arzt nicht kannte. Belastend empfanden es die Frauen, wenn ihnen nicht die Möglichkeit des Einflusses auf die Entscheidung für das weitere Vorgehen gegeben wurde.

Dieses Ergebnis der Interviews ist nicht sehr überraschend. Wirklich bemerkenswert sind jedoch die Schilderungen der teilweise massiven Verunsicherung und das Gefühl von Kontrollverlust durch die ärztliche Kommunikation (_ Infokasten II. Im Folgenden werden ausgewählte Verläufe der interviewten Frauen und entscheidende Passagen der Kommunikation vorgestellt. Die Originalzitate der Frauen sind in kursiv gestellt.

Maria (Prognose LGA)
Maria ist eine große, gesunde, junge Frau mit stabilem Körperbau und leicht erhöhtem BMI. Auch ihr Partner ist groß und kräftig. Maria erzählt, dass sie während ihrer unkomplizierten, physiologischen Schwangerschaft von ihrer Gynäkologin darauf hingewiesen wurde, dass sie ein großes Kind erwartet. Es beunruhigt sie zu keinem Zeitpunkt, da sie und ihr Mann auch groß sind. Zwei Tage nach ET fährt sie mit ihrem Partner in das Krankenhaus zur Routineuntersuchung wegen der Terminüberschreitung. Maria kennt die Ärztin nicht und empfindet die Untersuchung als unpersönlich. Es wird „gemessen und gemessen und gemessen“ bis zu dem Ergebnis: „oh ja, ok, ja, der ist sehr groß!“ Nach Rücksprache mit der Oberärztin kommt die Aussage: „Ah ja, wir müssen das Kind rausholen. Das muss jetzt raus!“. Es soll eine sofortige Einleitung erfolgen. Maria „hat null damit gerechnet,“ fühlt sich „perplex“ und „überfordert“ und sagt nichts mehr.

Die Information und Kommunikation während der Untersuchung empfindet sie als „kaum vorhanden“ und definitiv zu wenig. Das Schätzgewicht wird mit 4.230 g angegeben. Nachdem ihr Mann entscheidet, dass sie gegen ärztliche Empfehlung nachhause gehen wollen, wird ihnen die Entscheidung zwar überlassen, aber nochmal davon abgeraten und empfohlen doch gleich einzuleiten, und spätestens zwei Tage später wieder zu kommen. Nach der Entlassung hat Maria jeweils einen Termin mit der Hebamme und einen mit ihrer Gynäkologin. Die Ärztin schätzt das Gewicht auf 4.500 g und empfiehlt ihr auch eine Einleitung. Sie überlässt ihr aber die Entscheidung. Maria geht mit ET+4 wieder in die Klinik zur Einleitung, welche sich über fünf Tage hinzieht. Maria stellt sich dabei die Frage, ob „vielleicht ein Kaiserschnitt besser“ wäre, weil sie jetzt im Hinterkopf hat, dass ihr Sohn „jeden Tag schwerer wird“. Sie resümiert: „Plötzlich war es schlimm, dass er groß war“. Am fünften Tag der Einleitung bekommt Maria einen Wehentropf und gebiert ET+9 spontan einen Jungen mit 4.545 g. Als Geburtsverletzung ist ein Dammriss zweiten Grades dokumentiert.

Heidi (Prognose LGA)
Heidis Geburt ist 23 Jahre her. Nach einem unauffälligen Schwangerschaftsverlauf, bei dem eine Hausgeburt geplant war, wurde bei einer der Vorsorgeuntersuchungen von der Gynäkologin eine Biometrie vorgenommen. Ein Schätzgewicht wurde nicht dokumentiert, aber Heidi erinnert sich wie folgt an die Worte der Gynäkologin: „Das ist ein Kaiserschnitt, der Kopf ist zu groß, der geht nicht durch das Becken“. In Heidis Erinnerung war das eine definitive Prognose, die für die Gynäkologin feststand. Sie beschreibt die Situation des Ultraschalls: „dieser Bildschirm, wo sie dann klick, an die eine Stelle, dann rüberfahren − klick, an der anderen Stelle und dann das ausgemessen hat […] und dann nur so die Information […] Ich bin dann halt innerlich zusammengesackt“. Diese Erfahrung führte dazu, dass Heidi trotz Beruhigung durch die betreuende Hebamme immer mal wieder „an diese Aussage dachte, dass es dann vielleicht nicht funktioniert…“. Sie fühlte sich dadurch „ein bisschen verzweifelt, enttäuscht, auch ängstlich“.

Trotzdem plant sie weiter eine Hausgeburt. Wegen grünem Fruchtwasser wird die Geburt in die Klinik verlegt. Es wird spontan ein Junge mit einemKopfumfangvon37,5 cm und 3.750 g geboren. Auffallend ist, dass Heidi immer noch ein großes Bedürfnis hat, über den Verlauf und insbesondere die ärztliche Kommunikation zu berichten.

Ella (Prognose SGA)
Ella ist eine zierliche und sportliche Physiotherapeutin und Mutter von drei Kindern, die sie alle spontan entbunden hat. Es geht um die Untersuchung, die bei ihrem dritten Kind durchgeführt wurde. Am Tag der letzten Ultraschalluntersuchung in der Klinik liegen 3 verschiedene Tragzeiten vor: ET+13 nach der Berechnung ihrer Gynäkologin, ET+9 nach der Berechnung der Klinik und ET+7 nach dem frühen Ultraschall. Der Stationsarzt schätzt das Gewicht auf 2.510 g und empfiehlt daraufhin eine Einleitung am folgenden Tag. Ella hat selbst „das Gefühl, dass alles passt“ und will „auf keinen Fall eingeleitet werden“. Sie ist durch die Untersuchung sehr aufgewühlt, fühlt sich unter Druck gesetzt und weint. Es folgt ein Telefonat mit ihrer Hebamme.

Ella verlässt danach gegen ärztlichen Rat die Klinik, obwohl der Stationsarzt ihr sagt, dass es „gefährlich“ und „total verantwortungslos“ ist und dass sie das „Leben ihres Kindes aufs Spiel setzt“. Am selben Tag bekommt sie Wehen. Es erfolgt eine rasche Spontangeburt in der Klinik. Ihre Tochterwiegt 3.710 g.

Katinka (Prognose SGA)
Katinka ist Pädiaterin und war bis zur Geburt ihres ersten Kindes als Neonatologin in einer Klinik tätig. Sie ist groß, schlank und wirkt sehr agil. Katinka beschreibt ihr Kind in der Schwangerschaft als immer „zart“, aber mit kontinuierlicher Zunahme, die durch zahlreiche Ultraschalluntersuchungen dokumentiert ist. Es wird kommuniziert, dass die Geburt eingeleitet wird, sobald keine Gewichtszunahme mehr zu beobachten ist. Am ET wird in der Klinik ein fetales Gewicht von 2.800 g geschätzt und festgestellt, dass ihr Kind seit der letzten Ultraschalluntersuchung „gar nicht mehr zugenommen hat“. Daraufhin wird nach Rücksprache mit der Oberärztin eine sofortige Einleitung empfohlen. Katinka fühlt sich gut informiert durch die Klinik und ist sehr zufrieden mit der Kommunikation. Bei der Einleitung zwei Tage später bekommt Katinka unregelmäßige, nicht muttermundwirksame Wehen, denen mit Schmerzmitteln und Akupunktur begegnet wird. Sie ist „ständig am CTG“, weil an dem Tag viele Entbindungen stattfinden und „eine Sectio nach der anderen gemacht“ wird, und bemängelt die fehlende Kommunikation der Hebammen und vor allem der Ärzte. Katinka „versteht das nicht“, dass die Wehen keinen Erfolg bringen, ist „deprimiert“, körperlich „von den Wehen her fertig“ und hat wenig geschlafen. Aufgrund des auffälligen CTGs entscheidet sie sich für die empfohlene Sectio.

Diese Entscheidung ist für sie sehr erleichternd und auch im Nachhinein noch gut. Ihre Tochter ist 2.790 g schwer und von der Reife her der Schwangerschaftswoche entsprechend. Katinka sagt: „ich glaube, dass ich da auch ein besserer Arzt seitdem bin, dass ich die andere Seite in dieser Form kennengelernt habe“ und betont die Wichtigkeit der Kommunikation gegenüber den Eltern im Kreissaal und im OP. Ihre Arbeit hat sich dadurch „um 180°“ verändert.

Infokasten II: Definition Verunsicherung
Als Verunsicherung wird in der Psychologie der Verlust von emotionaler Sicherheit, Störung von Vertrauen und Selbstvertrauen bezeichnet. Dies verursacht Stress, der im besten Fall durch eine Coping- Strategie gelöst wird, im schlechteren Fall zu dem Gefühl eines Kontrollverlustes führt.


Fazit
Dies sind subjektive Erfahrungen von wenigen Frauen. Es wird aber ein Grundmuster sichtbar, welches durch größere Befragungen bestätig werden könnte. Die Arbeit zeigt, wie stark eine Schwangere von einer Gewichtsschätzung verunsichert werden kann, wenn sie nicht von einer guten ärztlichen Kommunikation begleitet wird. Die Bedeutung einer achtsamen Beurteilung aller erhobenen Befunde gilt für alle betreuenden Fachpersonen. Da es laut Mutterschaftsrichtlinien bei einem unauffälligen Schwangerschaftsverlauf nicht erforderlich ist, das Gewicht des Fötus in Terminnähe zu schätzen, sollte diese in der Praxisroutine nicht regelhaft erfolgen. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass das Ergebnis die Gefahr einer unnötigen Irritation birgt. Sollte eine Gewichtsschätzung dennoch erfolgen, muss die Schwangere darüber aufgeklärt werden, dass das Ergebnis einer erheblichen Messtoleranz unterliegt und nur ein schwacher Prädiktor für eine problemlose Spontangeburt ist. Bei auffälliger Gewichtsentwicklung in der Schwangerschaft und einer medizinischen Notwendigkeit der Kontrolle sollte der Schwangeren der Untersuchungsbefund, mögliche Konsequenzen und verschiedene Vorgehensoptionen verständlich erklärt werden. Sie muss im Sinne einer informierten Entscheidung mitbestimmen können, welches Vorgehen sie möchte. So kann sie den Beginn des Geburtsverlaufs als selbstbestimmt erleben.


Zusammenfassung
Eine Gewichtsschätzung per Ultraschall kurz vor dem Geburtstermin wird häufig durchgeführt, auch wenn das laut Mutterschaftsrichtlinien nicht zum Standard gehört. Im Rahmen des Masterstudiengangs Salutophysiologie für Hebammen an der Fachhochschule Salzburg wurden6qualitativeInterviewsmit Schwangerenüber ihr Erleben der sonografischen Gewichtsschätzungen des Fötus zum Zeitpunkt des errechneten Geburtstermins geführt. Es sollte untersucht werden, welchen Einfluss die Untersuchung selbst und die Kommunikation in diesem Zusammenhang auf die Schwangeren und ihre Entscheidungen ausüben. Alle Frauen berichten von psychischen Auswirkungen der Untersuchung und deren Setting. Insbesondere wird ein deutliches Gefühl des Kontrollverlustes genannt, wenn eine Geburtseinleitung oder eine primäre Sectio aufgrund der Gewichtsschätzung empfohlen wurde. Die Arbeit zeigt, dass die Ultraschalluntersuchungen um den Termin einen starken und nicht immer hilfreichen Einfluss auf die Schwangere ausüben können. Außerdem wurde deutlich, dass nicht vorrangig die Durchführung der Untersuchung oder eine Fehleinschätzung des Gewichts für die Schwangeren problematisch sind, sondern primär die Art der Kommunikation massive Verunsicherungen hervorrufen kann.

Schlüsselwörter: Gewichtsschätzung – Makrosomie – Geburtseinleitung – Kommunikation – Kontrollverlust 20

 

Summary
Stress on the last meters? – Fetal weight estimation near term and its importance for pregnantwomen
J.Maeffert, K. Jahncke, C. Loytved
Weight estimation by ultrasound shortly before the due date is often carried out, even though it is not part of the standard procedure according to maternity guidelines. Aspart of the Master’s programme inSalutophysiology for Midwives at the Salzburg University of Applied Sciences, 6 qualitative interviews were conducted with pregnant women about their experience of sonographic fetalweight estimations at the time of the estimated due date. The aim was to investigate the influence of the examination itself and the communication in this context on the pregnant women and their decisions. All women report psychological effects of the examination and its setting. In particular, a clear sense of loss of control ismentioned when induction of labour or primary c-section was recommended based on the weight estimate. The interviews showthat the ultrasound examinations around the due date can have a strong and not always helpful influence on the pregnantwoman. Furthermore, it became clear that it is not primarily the performance of the examination or a misestimation of weight that is problematic for the pregnant women, but primarily the type of communication that can causemassive insecurities.

Keywords: weight estimation – macrosomia – induction of labour – communication – loss of control

Interessenkonflikt:
Die Autorinnen erklären, dass bei der Erstellung des Beitrags keine Interessenkonflikte im Sinne der Empfehlungen des International Committee of Medical Journal Editors bestanden.

Korrespondenzadressen:

Dr. med. Jana Maeffert
Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe
mig-zentrumBerlin
Schloßstraße 28
12163 Berlin
Tel.: 03079-08600
janamaeffert@web.de

Dr. rer.medic. Christine Loytved, MPH
Dozentin am Institut für Hebammen
Departement Gesundheit
Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Katharina-Sulzer-Platz 9
8400 Winterthur
christine.loytved@zhaw.ch

Kathrin Jahncke
Hebamme MSc.
Hebammenpraxis Fraueninsel
Bernauerstraße 13 b
83209 Prien am Chiemsee
Tel.: 08051-309389
Katti.jahncke@gmail.com

Slide Stress auf den letzten Metern? – Fetale Gewichtsschätzung in Terminnähe und deren Bedeutung für Schwangere Gyne 08/2021

Literatur:

1. Mutterschaftsrichtlinien. https:// www.g-ba.de/downloads/62-492- 2301/Mu-RL_2020-08-20_iK-2020-11- 24.pdf
2. Hellmeyer L et al. Wertigkeit der ultrasonographischen Gewichtsschätzung im Vergleich zum Geburtsgewicht: Eine retrospektive Anlayse. Ultraschall Med 2001; 22(4): 167–171
3. Faschingbauer F et al. Longitudinal Assessment of Examiner Experience and the Accuracy of Sonographic Fetal Weight Estimation at Term. Journal of ultrasound inmedicine: official journal of the American Institute of Ultrasound inMedicine 2016; 36(1)
4. Pagani G et al. Fetalweight estimation in gestational diabetic pregnancies: comparison between conventional andthree-dimensional fractional thigh volume methods using gestation-adjusted projection. Ultrasound Obstet Gynecol 2014; 43(1): 72–6
5. Siemer J. Basis der Ultraschalluntersuchung. In: Gembruch U., Hecher K., SteinerH. (2018).Ultraschalldiagnostik in Geburtshilfe und Gynäkologie. Berlin: Springer
6. AWMF-Leitlinie. Intrauterine Wachstumsrestriktion 2016; https:// www. awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/ 015-080l_S2k_Intrauterine_ Wachstumsrestriktion_2017_06- verlaengert.pdf
7. Kiserud T et al. The World Health Organization Fetal Growth Charts: A Multinational Longitudinal Study of Ultrasound Biometric Measurements and Estimated Fetal Weight. PLoS Medizin 2017; 14(1): e1002220
8. Siemer J et al. Fetal weight estimation by ultrasound: comparison of 11 different formulae and examiners with differing skill levels.UltraschallMed 2008;29(2): 159–164
9. Van der Zalm JE & Byrne PJ [2006). Seeing baby:women’s experience of prenatal ultrasound examination and unexpected fetal diagnosis. J Perinatol 2006; 26(7): 403–408
10. Garcia J et al. Women’s views of pregnancy ultrasound: a systematic review. Birth 2002; 29(4): 225–50

Vollständige Literatur unter: https://medizin.mgo-fachverlage.de/gyne/literatur-gyne/

Gyne 03/2022 – “…danach bin ich jahrelang nicht mehr zur Vorsorge gegangen“: Leitfaden für die gynäkologische Unterleibsuntersuchung

  • 27. Juni 2022
  • Gyne

Gyne 03/2022

“…danach bin ich jahrelang nicht mehr zur Vorsorge gegangen“: Leitfaden für die gynäkologische Unterleibsuntersuchung

Autorinnen:

C. Schumann-Doermer, C. Gras

Die gynäkologische Untersuchung gehört zum Standard in der gynäkologischen Praxis. Es gibt eine merkliche Diskrepanz zwischen dem Erleben von Gynäkolog*innen, für die die Situation zur Routine gehört, und dem von Patient*innen(1), die häufig Gefühle von Exponiertheit, Scham oder Schmerz äußern. Es scheint an der Zeit, sich mehr Gedanken über die Gestaltung des „Eingriffs“ zumachen, um mögliche Belastungen zu erkennen und zu vermindern und gleichzeitig die Patient*innen mehr einzubeziehen. Eine gut geplante und aufmerksame Untersuchung dient letztlich allen Beteiligten.

Erst untenrum?
Zu kaum einer anderen Untersuchung gehen Patient*innen in Deutschland so oft und gleichzeitig mit so gemischtenGefühlen wie zur Unterleibsuntersuchung, sei es im Rahmen der Früherkennung, der Schwangerschaft oder bei Beschwerden. Was für Gynäkolog*innen zur tagtäglichen Routine gehört, über die sie sich kaum mehr Gedankenmachen,kannPatient*innen beunruhigen.Das ist keinWunder: Die vaginale Palpation mit den Fingern ist buchstäblich ein „Eingriff“ indenKörper, ebensowiedas Einführen der phallisch-geformten US-Sonde [1]. Was genau gemacht wird und gefunden werden kann, ist vielen Personen nicht klar. Die wenigsten haben konkrete Vorstellungen und Bezeichnungen für das „untenrum“. Dieses Nicht-Wissen verunsichert, kann zu Verkrampfung führen, die Untersuchung kann schmerzhaft sein. Dazu kommt die exponierte Haltung, halbnackt auf dem Untersuchungsstuhl. Die Nähe der Situation zu Intimität und Sexualität ist offensichtlich. Diese Mischung aus Unwissen, Scham, Angst, Anspannung und Schmerz, Erlebtem oder Erinnertem, kann dazu führen, dass Patient*innen den Gang in die gynäkologische Praxis tunlichst meiden [2]. Das gilt besonders für Personen, die Gewalt erlebt haben [3]. Mögliche Folgen: Die Früherkennung unterbleibt, Krankheiten werden nicht erkannt. Alle Gynäkolog*innen kennen Menschen, bei denen herausgeschobene Untersuchungen zu später Diagnose und entsprechend schlechtem Verlauf führen.

Zum Glück sind das Ausnahmen. Es gibt Patient*innen, die gänzlich unbefangen in die gynäkologische Praxis gehen. Verbreitet sind allerdings Unsicherheit und Gefühle von „Exponiert-Sein“. So teilte im Januar 2022 eine Publizistin auf Twitter unverblümt ihre Erfahrung [4]: „als junge Frau beim Frauenarzt, hab gezittert, fühlte mich scheiße, so Beine breit und nackig vor einem fremdenMann. Der Arzt: ’beim Sex sind Sie doch bestimmt auch nicht so verkrampft!’ Er war grob, unfreundlich und ich bin danach jahrelang nicht mehr zur Vorsorge gegangen.“

Noch in den 1980er Jahren wurden Frauen vom Chefarzt quasi ’öffentlich’ auf dem gynäkologischen Stuhl untersucht, halbnackt ausgesetzt denBlicken der hinter ihm stehenden überwiegend männlichen Weißkittel [5]. Seitdem hat sich vieles positiv geändert. Unter anderem die Frauenbewegung und die Einflüsse der psychosomatischen Frauenheilkunde haben dabei jeweils unterschiedliche Rollen gespielt.

Die Problematik rund um den Gang in die gynäkologische Praxis ist allerdings in der gynäkologischen Fachgruppe weiterhin erstaunlich wenig präsent: Die Untersuchung wird eher nebenbei gelehrt und gelernt. Es findet sich keine verbindliche Anleitung, die eine Sensibilisierung für diese „alltägliche Sondersituation“ vermittelt und entsprechend Denk- und Handlungsstrategien anbietet.

Wie kam es zu diesem Leitfaden?
Aus diesen Überlegungen entstand die Idee für den hier vorgestellten Leitfaden, der in ganzer Länge auf der Website des AKF (www.arbeitskreis-frauengesundheit. de/2021/11/11/zur-diskussionleitfaden-fuer-die-gynaekologischeunterleibsuntersuchung/) nachzulesen ist.

Der Leitfaden entstand aus der Kooperation von uns zwei sehr unterschiedlichen Autor*innen: Colette Gras, Jahrgang 1993, Ärzt*in, die 2018 noch im Rahmen ihres Medizinstudiums die Studienlage zur vaginalen Untersuchung aufgearbeitet und im FRAUENARZT veröffentlicht hat [2] und sich extracurrikulär für eine sichere, professionelle und möglichst diskriminierungsarme gynäkologische Versorgung in Deutschland einsetzt, und Claudia Schumann-Doermer, Jahrgang 1951, Frauenärztin/Psychotherapeutin, langjährig aktiv im Vorstand des AKF und der DGPFG (Deutsche Gesellschaft für psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe), die auf fast 40 Jahre Erfahrung in Klinik und Praxis zurückschaut. Eine Generation liegt zwischen uns; wir leben in unterschiedlichen Erfahrungswelten. Unsere feministische Grundeinstellung war die Basis, auf der wir in einem fruchtbaren Austausch zu Aussagen fanden, die wir gemeinsam vertreten können.

Das Grundkonzept passte noch auf eine DIN-A4-Seite. Es wurde im März 2020 auf der DGPFG-Tagung in einem Workshop vorgestellt und führte zu einer lebhaften Diskussion mit zahlreichen Vorschlägen. Um die Relevanz der Thematik zu eruieren und weitere Anregungen zu erhalten, wurde eine erweiterte Fassung an alle Mitglieder der DGPFG und an die Fachgruppe Frauenärztinnen des AKF verschickt mit der Bitte um kritische Rückmeldungen.

Die große Resonanz hat uns überrascht und erfreut. Fast alle stimmten darin überein, dass ein Leitfaden für die gynäkologische Untersuchung dringend erforderlich und unser Projekt entsprechend sinnvoll ist. Das hat uns darin bestärkt, den Leitfaden zu vertiefen: In die aktuelle mehrseitige Fassung sind kritische Ergänzungen von über 100 Fachleuten eingearbeitet. Zusätzlich haben wir die Impulse aus ersten Interviews mit Frauen eingearbeitet, die wir zu ihren Erfahrungen zur eigenen Untersuchung befragt haben. Diese Patient*innen-Perspektive soll bei weiteren Bearbeitungen des Leitfadens noch stärker einbezogen werden.

Was sind die Ziele?
Im Leitfaden geht es nicht darum, was mit welcher Methode gefunden werden kann, sondern darum, wie die Untersuchung gestaltet wird und was dabei im Vorfeld berücksichtigt werden sollte. Besonders Studierende sowieÄrzt*innen, die am Anfang ihrer gynäkologischen Ausbildung stehen, sollen informiert werden über Voraussetzungen, Vorbereitung und Ablauf der gynäkologischen Untersuchung. Darüber hinaus können erfahrene Ärzt*innen Anstöße erhalten, ihr Tun und Verhalten zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern.

Neben der kritischen ärztlichen Selbstreflektion geht es um Aufmerksamkeit innerhalb des Teams für das Thema Gewalt und für unterschiedliche Diskriminierungsformen. Ziel ist es, über den Aufbau einer tragfähigen Beziehung möglichst viel Wissen über Gesundheit undKrankheit der Patient*innen zu erhalten und zu vermitteln.

Mit Blick auf die Patient*innen geht es vorrangig um Respekt vor Bedürfnissen und Gefühlen, um Information und Beratung und um Stärkung der Selbstbestimmung/des Empowerments. In diesem Sinn ist das Ziel, dass der Eingriff nicht als Übergriff erlebt wird, sondern als wichtiger Teil der gynäkologischen Betreuung, den die Patient*innen mitbestimmen können; und dass auch Personen in die gynäkologische Praxis kommen, die zunächst eine Untersuchung ablehnen aufgrund ihrer negativen Vorerfahrungen oder Befürchtungen.

Ist die gynäkologische Palpation noch indiziert?
Diese Frage wurde aufgeworfen bei der Diskussion des Projekts „Leitfaden“ im Rahmen einer Beirats-Sitzung der DGPFG. Sie ist berechtigt, da es an evidenzbasiertem Wissen umdie Effektivität der bimanuellen Palpation mangelt [6–8]. Entsprechend ist der Anspruch an die Indikation hoch zu stellen. Diese Diskussion soll hier nicht geführt werden.

Zu konstatieren ist: Die vaginale Untersuchung gehört zum Standard im gynäkologischen Praxisalltag. Und aus psychosomatischer Sicht hat die Berührung mit den Händen eine eigene Bedeutung und Berechtigung, wobei in Zeiten einer Sensibilisierung für Übergriffe – #MeToo – betont werden muss: Berührung setzt eine tragfähigeBeziehung voraus, sie muss erklärt werden und auch abgelehnt werden dürfen. Durch Berührung kann das Gefühl vermittelt werden „in guten Händen zu sein“ [9].

„High tech – low touch“ steht für eine technikorientierteMedizin, die die Beziehung vernachlässigt. Gerade das vorsichtige Abtasten und das Berührtwerden kann für beide, Ärzt*innen sowie Patient*innen, ein wichtiger Teil der Begegnung sein [10], der zur Klärung von Befinden und Beschwerden beiträgt. Wichtige Voraussetzungen: Die Situation und die damit verbundene mögliche Dynamikwerden auf ärztlicher Seite reflektiert und die Patient* innen verfügen über ausreichend Informationen.

Das bedeutet: Gut vorbereitet, kann gerade dieser für die Gynäkologie typische Ablauf von Vorgespräch – intimer Untersuchung – Nachgespräch eine besondere Chance darstellen für die Kommunikation auf den verschiedenen Ebenen, verbal und nonverbal, und damit für Diagnose und auch Therapie. In diesem Sinn ist der im Folgenden in den Grundstrukturen vorgestellte Leitfaden konzipiert.

Ärztliche Einstellung und Haltung
Bei jeder medizinischen Untersuchung gibt es eine gewisse Asymmetrie zwischen Ärzt*in und Patient* in. Dieses unausgesprochene, aber spürbare Machtgefälle zwischen Ärzt*innen und Patient*innen beruht vor allem auf der fachlichen Kompetenz und Autorität der Ärzt*innen. Das kann durch zugängliche und verständliche Informationen und durch wertschätzende Kommunikation mit genug zeitlichem Spielraum vermindert werden.

Die dargestellte besondere gynäkologische Untersuchungssituation verschärft allerdings die aufgezeigte Diskrepanz. Die offensichtliche Nähe der Situation zu Intimität und Sexualität kann Gefühle von Scham und auch Erotik auslösen, die von den Beteiligten mehr oder weniger bewusst abgewehrt oder ganz verdrängt werden [11]. Das gilt nicht nur für Patient*innen [12]. Auch Gynäkolog*innen kommen bei der Begegnung mit ihren Patient*innen nicht umhin, sichmit Gefühlen von Nähe und Erotik auseinanderzusetzen [13]. Entsprechend geht es für alle Gynäkolog*innen um den Umgang mit dieser Problematik: „Wenn es gelingt, die erotischen Gefühle und Empfindungen, die in der Begegnung mit der Patientin ausgelöst werden, zu fühlen, ohne handeln zu müssen, können sie in einem guten diagnostischen und therapeutischen Sinn wirksam werden für beide Seiten“ [14].

Hemmschwellen erkennen
Diskriminierung– auch ungewollte und indirekte – führt im Gesundheitssystem zu schädigenden Effekten [15]: „Wer Angst vor sich wiederholender herabwürdigender Behandlung hat, wird ggf. allein schon deshalb den Kontakt zu Ärzten und Ärztinnen meiden“. Wie lässt sich das ändern? Die Praxisatmosphäre und der erste Eindruck sind wichtig: So können Poster – z. B. zum Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen – und Flyer zumThema LGBTQIA+ (lesbisch, schwul (gay), bisexuell, trans, queer/questioning, intersexuell, asexuell)nonverbal signalisieren, dass bestimmte Themen in der Praxis bekannt sind und angesprochen werden können.

Noch wichtiger ist eine entsprechende Sensibilisierung des gesamten Praxisteams durch gemeinsame Teamsitzungen und Fortbildungen. Eine ruhige Atmosphäre, guter Kontakt zu den medizinischen Fachangestellten ebenso wie deren Diskretion sind für viele Patient*innen von entscheidender Bedeutung, um sich in einer Praxis/Ambulanz gut aufgehoben zu fühlen. Gerade bei häuslicher Gewalt hat die gynäkologischePraxis eine große Chance und sie kann eine Schlüsselfunktion einnehmen [16, 17]. Dabei spielen die MFA eine wichtige Rolle. Struktureller Rassismus, Gewichtsdiskriminierung und Diskriminierung aufgrund von Alter, körperlicher und geistiger Behinderung oder moralischen Vorbehalten (Sexarbeit) sind weitere wichtige Themen. Beispiele, wie damit umgegangen werden kann, werden im Leitfaden geschildert. Ebenso wird auf den Umgang mit möglichen Kulturschranken und Sprachbarrieren hingewiesen, auf das Recht auf Dolmetscherdienste und die Möglichkeiten der webbasierten Kommunikation.

Technische Voraussetzungen
Wie können Anmeldung und Untersuchungsräume so gestaltet werden, dass Patient*innen sich sicher und wohl fühlen? Es lohnt sich, die Praxisräume unter dieser Fragestellung zu inspizieren. Ist die Rezeption gut abgegrenzt, sodass von Patient*innen auch „intime Themen“ ungestört angesprochen werden können? Ist der Untersuchungsstuhl gut platziert, ist er zugänglich für mehrgewichtige, ältere oder behinderte Patient*innen? Steht neben dem gewohnten Untersuchungsstuhl alternativ auch eine Liege bereit? Sind die Umkleidekabine und dieUntersuchungsinstrumente überlegt ausgestattet? Auf diese Fragenkomplexe wird im Leitfaden umfassend und mit konkreten Tipps eingegangen.

Gespräch vor der Untersuchung
Das Gespräch vor der Untersuchung spielt eine große Rolle für einen guten Ablauf. Dabei geht es, wie bei jedem medizinischen Eingriff, um den „informed consent“: Ist überhaupt eine Untersuchung erforderlich – und wenn ja: welche? Je nach Situation sollte den Patient*innen klar sein, was auf sie zukommt, oder auch, warum eine Untersuchung nicht erforderlich ist. Gerade letzteres führt nicht selten zu Nachfragen, zum Beispiel, wenn bei der Schwangerschaftsvorsorge nicht vaginal untersucht wird.

Manche Themen sind vor allem wichtig beim ersten Kontakt mit Patient*innen und erübrigen sich später: Gibt es (negative) Vorerfahrungen oder Ängste, die beachtet werden sollten? Die Möglichkeit eines Stopp-Signals sollte eindeutig geklärt sein. Ebenfalls zum Vorgespräch gehört die Erörterung, warum auffällige Befunde erst nach Abschluss der Untersuchung ausführlich besprochen werden.

Ablauf der Untersuchung
Dieser zentrale Teil stellt den Kern unseres Leitfadens dar. „Ich fange jetzt an mit der Untersuchung – okay?“ kann ein guter Beginn für den Eingriff sein. Wichtig ist, mit den Patient*innen tatsächlich im Kontakt zu bleiben. Der Bedarf ist unterschiedlich: Für viele ist die ruhige Beschreibung des Tuns und eventueller Befunde hilfreich. Für andere kann ein ablenkendes Gespräch angenehmer sein, sie wollen nichts davon hören, was gerade untersucht wird. Nicht angebracht sind wertendeAussagen, die als verbale Übergriffe erlebt werden können: „Richtig schön, Ihre Brüste!“ Gewarnt wird vor beruhigenden Bemerkungen à la „Es ist gleich vorbei“, die als Trigger wirken und entsprechend starke emotionale Reaktionen hervorrufen können, bis hin zu einer Dissoziation. Was das bedeutet und wie darauf mit einfachen Mitteln reagiert werden kann, wird im Leitfaden erläutert. Weitere Themen: Gibt es Gründe, dass ein/e Mitarbeiter*in während der Untersuchung anwesend sein sollte? Wie kann mit Störungen von außen umgegangen werden? Aus der eingangs erwähnten Befragung von Kolleg*innen kamen viele ganz konkrete Tipps für die Untersuchung: ein wertvoller Erfahrungsschatz.

Gespräch nach der Untersuchung
Angezogen und auf Augenhöhe: Das sollte die Situation sein für die Nachbesprechung. Es geht um die Konsequenzen aus den erhobenen Befunden und um die Dokumentation. Letzteres ist besonders wichtig, wenn Patient*innen Gewalt erlebt haben. Eingerahmt durch ein aufmerksames Vor- und Nachgespräch, in dem ausreichend Platz ist für Fragen und Vorschläge, erhält die Untersuchungssituation für die Patient*innen einen überschaubaren Platz, den sie selbst beeinflussen können.

Wie kann es weitergehen?
Der vorgestellte Leitfaden beansprucht keine Vollständigkeit oder Endgültigkeit. Wir wünschen uns Aufmerksamkeit für die Thematik, vor allem in der gynäkologischen Fachwelt. In diesem Sinn haben wir den Leitfaden im November 2021 im Netz bewusst „Zur Diskussion“ veröffentlicht. Anerkennung und erste Rückmeldungen haben wir inzwischen von engagierten Kolleg* innen erhalten, zum Beispiel zum Vorgehen beim Wunsch nach Bescheinigung eines intakten„Jungfernhäutchens“.

Viel Zustimmung kam von Patient*innen, die sich nach der Lektüre des Leitfadens eine entsprechende Zuwendung von ihren Gynäkolog*innen erhoffen. Manche berichteten von schlechten Erfahrungen [18]. Solche Beiträge sind auf social media inzwischen vielfach von Patient*innen und Aktivist*innen gesammelt worden. Wir haben vor, die Stimme der Patient*innen durch eine online-Befragung weiter einzubeziehen.

Wir wollen einen Anstoß geben: Dass der Leitfaden für die gynäkologische Untersuchung, weiterentwickelt und überarbeitet, in der Aus- und Weiterbildung von Gynäkolog*innen berücksichtigt wird. Eine kürzlich publizierte Studie mit dem Ziel, „Erkenntnisse durch den Blickwinkel von Patient*innen auf die Ausbildung von Medizinstudierenden“ zu gewinnen, betont die hohe Erwartung der Patient*innen an die psychosozialen Kompetenzen von Ärzt*innen [19].

Wir hoffen entsprechend auf Rückmeldungen von Seiten der gynäkologischen Fachwelt, besonders von denen, die gerade in derWeiterbildung stehen oder in der Ausbildung tätig sind.Wir gehen zusätzlich davon aus, dass auch die Patient*innen mehr wissen müssen, damit Untersuchende und Untersuchte möglichst auf Augenhöhe kommunizieren können. Derzeit arbeiten wir an einem Informations-Tool, in dem neben dem Wissen um die individuelle eigene Vorbereitung vor allem Informationen zur Untersuchung vermittelt werden sollen, zum Beispiel: Wo liegen die verschiedenen Organe? Wie werden sie benannt? Warum werden Spekula eingeführt? Was fühlen Ärzt*innen bei der bimanuellen Palpation, was Patient*innen? Um mitreden und eigene Vorstellungen einbringen zu können, obliegt es auch den Patient*innen, sich zu informieren. Eine Voraussetzung dafür ist der Zugang zu passenden Informations- und Aufklärungsangeboten.

Wenn es Standards gibt in den Abläufen, erhöht das die Sicherheit und Zufriedenheit aller Beteiligten. Wenn alle mehr wissen und aufmerksam sind, sind gute Grundsteine gelegt für eine bessere Kommunikation und damit für eine bessere Begleitung in Gesundheit und Krankheit. Und damit ist letztlich eine win-win-Situation für alle erreicht, für Patient*innen ebenso wie fürÄrzt*innen.

Zusammenfassung
Wir sind es unseren Patient*innen schuldig, dass wir nicht nur fachlich für die Untersuchung vorbereitet sind, sondern auch die Situation und die Beziehungsebene reflektieren. Von einem„Leitfaden“ profitieren beide Seiten: Die Patient*innen und ihre Bedürfnisse werden respektiert und einbezogen, sie können mit entscheiden und fühlen sich wohl und sicher. Die Frauenärzt*innen, Neulinge wie Erfahrene, sind gut vorbereitet bzw. bekommen Anregungen, kennen die diversen Probleme, können damit (besser) umgehen – und erfahren möglichst viel über Gesundheit bzw. Krankheit der Patientin.

Schlüsselwörter: gynäkologische Untersuchung – Leitfaden – Patientenzufriedenheit

Summary
„… since then, I did not go to preventive care for years“: guideline for the gynecological abdominal examination C. Schumann-Doermer, C.Gras

We owe our patients thatwe are not only technically prepared for the examination, but also reflect the situation and the relationship level. Both sides benefit from a guideline: The patients because they and their needs are respected, they feel included, have a say inthedecision making, feel comfortable and safe. The gynecologists, beginners as well as experienced ones, are well prepared and receive stimulation, know the diverse issues and are able to dealwith them– and they learn asmuch as possible about the health and disease of their patient.

Keywords: gynecological examination – guideline – patient satisfaction

Interessenkonflikt:
Die Autor*innen erklären, dass bei der Erstellung des Beitrags kein Interessenkonflikt im Sinne der Empfehlung des International Committee of Medical Journal Editors bestand.

Korrespondenzadresse:
Dr.med. Claudia Schumann-Doermer
Mitglied im Beirat der DGPFG
Hindenburgstr. 26, 37154 Northeim
Tel.: 0049-5551-4774
www.dr-claudia-schumann.de
ClaudiaSchumann@t-online.de

Dr. med. ColetteGras
colette.gs@posteo.de

Slide „…danach bin ich jahrelang nicht mehr zur Vorsorge gegangen“: Leitfaden für die gynäkologische Unterleibsuntersuchung Gyne 03/2022

Literatur:

Literatur:
1. Schumann C. Ambulante integrierte psychosomatische Versorgung, in: Weidner K. et al. (Hgb.): Leitfaden Psychosomatische Frauenheilkunde. DeutscherÄrzteverlag 2012
2. Gras C . Konzepte zur Verbesserung der gynäkologischen Untersuchung; FRAUENARZT 2019; 3: 168–72
3. Güne G, Karaçam Z: The feeling of discomfort during vaginal examination, history of abuse and sexual abuse and post-traumatic stress disorder in women. J Clin Nurs 2017; 26, 2362–71
4. Domscheit-Berg A. Twitter Antwort an @joanalisti; 15.1.2022
5. Schumann C. Die frauenärztliche Untersuchung: Umgang mit dem Eingriff. Frauenheilkunde mit Leib und Seele; sychosozial Verlag 2017; 45-9
6. Ebert A-D, Lippschütz Met al. „Die Person welche wir untersuchen, kann entweder liegen, stehen oder knien“; FRAUENARZT 2020; 6; 412–15
7. ACOG Commitee: ACOG Committee Opinion No. 754: The Utility of and Indications for Routine Pelvic Examination. Obstet Gynecol 2018; 132, e174–e180
8. Evans D et al. No. 385-Indications for Pelvic Examination. J Obstet Gynaecol Can JOGC J Obstet Gynecol Can JOGC 2019; 41, 1221–34
9. Böhme R. Human Touch. Warum körperliche Nähe so wichtig ist. Erkenntnisse aus Medizin und Forschung.München Beck Verlag 2019
10. Danzer G. Personale Medizin. Huber Verlag 2012
11. Bitzer J. Der männliche Gynäkologe und seine Patientin – Wie gehen beide mit ihren erotisch-sexuellen Bedürfnissen um? In: Bauer E. et al (Hgb.):Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe, Beiträge der Jahrestagung1996/97. Psychosozial Verlag Gießen
12. Amendt G. Die Gynäkologen. Konkret Literatur Verlag 1982
13. Kastendieck M. Erotik zwischen Frauenärztin und Patientin. In: Bauer E.etal (Hgb.), Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe, Beiträge der Jahrestagung1996/97. Psychosozial Verlag Gießen
14. Frick-Bruder V. Erotische Spannung und sexueller Übergriff in der Arzt-Patientinnen-Beziehung – eine Grenzziehung. In: Bauer E. et al (Hgb.),Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe, Beiträge der Jahrestagung1996/97. Psychosozial Verlag Gießen
15. Hädicke M, Wiesemann C. Was kann das Konzept der Diskriminierung für die Medizinethik leisten? – Eine Analyse. EthikMed 2021; 33, 369–86
16. Schumann C. Die frauenärztliche Praxis – Schlüsselrolle bei der Intervention gegen Gewalt an Frauen. In: Büttner M (Hrsg.): Handbuch Häusliche Gewalt. Klett-Cotta 2020
17. Schellong J . Zur Relevanz psychischer Gesundheit gewaltbetroffener Frauen im Gesundheitswesen. Dokumentation des Fachtages GEWALT.MACHT.FRAUEN.KRANK. Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin (Hgb.), Psychotherapie und Gesellschaft e.V. 2021
18. Büttner M. Reaktionen auf den Leitfaden via Instagram(pers.Mitteilung) 2021
19. Wollsching-Strobel Met al. Wie sieht ein patientenzentriertes, zukunftsgerichtetes Curriculum im Humanmedizinstudium aus? Die Sicht der Patient*innen. Z.Evid.Fortb.Qual.Gesundh.wesen (ZEFQ) 2021; 167 (20231): 50–6

Gyne 04/2022 – Der schwangere Vater – Zur medizinischen Versorgung von schwangeren Transmännern und nicht-binären schwangeren Personen

  • 2. September 2022
  • Gyne

Gyne 04/2022

Der schwangere Vater – Zur medizinischen Versorgung von schwangeren Transmännern und nicht-binären schwangeren Personen

Autor:

Nathan Mehring

Glossar

Trans: Überbegriff für Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Auch nicht-binäre Identitäten können unter dem Begriff Trans gefasst werden.
Cis: Menschen, deren Identität mit dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.
Transmann: Auch FtM (Female toMale). Ein Mann, der bei seiner Geburt dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wurde.
Transfrau: Auch MtF (Male toFemale). Eine Frau, die bei ihrer Geburt dem männlichen Geschlecht zugeordnet wurde.
Genderqueer/Nicht-binär: Beide Begriffe werden als eigene Identitätsbezeichnung, aber auch als Überbegriff für weitere Identitäten verwendet. Nicht-binäre Menschen identifizieren sich weder als Mann noch als Frau. Beispiele für nicht-binäre Identitäten sind genderfluid, bigender, pangender, agender, demigirl, demiboy, neutrois und viele weitere.
Dysphorie: Psychischer Schmerz angesichts des eigenen Körpers, oft besonders auf die Geschlechtsmerkmale bezogen. Nicht alle transidenten Menschen empfinden im gleichen Maße oder überhaupt Körperdysphorie.
Misgendern: Die Verwendung der falschen Pronomen und Anrede. Dies wird von vielen Transmenschen als sehr belastend erlebt.
Unterstrich_ und Gendersternchen*: Beide Schreibweisen wollen zeigen, dass nicht nur binäre Identitäten gemeint sind. Bei Patient*innen und Ärzt_innen sind also auch nicht-binäre Menschen mitgedacht. Häufig wird auch ein Sternchen nach trans* geschrieben, um besonders deutlich zu machen, dass der Begriff eine Vielzahl unterschiedlicher Identitäten unter sich vereint. Also nicht nur Transmänner und Transfrauen, sondern auch alle nicht-binären Identitäten.
Testosterontherapie: Transmänner erhalten ihr Testosteron entweder als intramuskuläre Depotspritze oder als Testosterongel. Das Gel wird täglich aufgetragen, das Depotpräparat muss alle paar Wochen erneuert werden. Die Dosierung kann individuell unterschiedlich ausfallen.  

Nicht nur Mütter waren schwanger [1]

In der öffentlichen Wahrnehmung“ „sind schwangere Männer etwas Außergewöhnliches und werden von vielen als „nichtnormal“ angesehen. Insbesondere wird gerne auf die Neuartigkeit des Phänomens hingewiesen und dass es „früher so was ja nicht gab“. Dabei wird oft vergessen, dass Transmenschen sich noch bis vor zehn Jahren sterilisieren lassenmussten, um ihren Personenstand nach dem Transsexuellengesetz (TSG) offiziell ändern zu können. Erst 2011 er- diese Art der Zwangssterilisation für verfassungswidrig [2].

Es ist also vielmehr so, dass Transmänner und nicht- binäre Menschen auch schon früher Kinder geboren haben, nur blieb ihnen die rechtliche Anerkennung ihrer Identität verwehrt. Auch nach Abschaffung der Zwangssterilisation schreibt das TSG im Prinzip weiterhin vor, dass bei Geburt eines Kindes durcheinen Mann dessen Personenstandsänderung widerrufen wird, da er ja eindeutig eine Frau sei, wenn er ein Kind geboren habe [3]. Aktuell gelangt diese Regelung allerdings nicht mehr zur Anwendung. Obwohl heute rechtliche Männer Kinder gebären können, ist das Abstammungsrecht noch immer nicht angeglichen, sodass die gebärenden Väterweiterhin als Mutter und mit einemrechtlich nichtmehr existenten Vornamen in der Geburtsurkunde ihrer Kinder stehen. Dies ist nicht nur schmerzlich für die Betroffenen, sondern führt auch zu Komplikationen im Alltag, da jede Vorlage der Geburtsurkunde des Kindes (z. B. bei der Anmeldung im Kindergarten) zu einem Zwangsouting führt. Zur mangelnden öffentlichen Wahrnehmung trägt außerdem bei, dass sich manche nicht-binäre Menschen und Transmänner aus Angst vor Diskriminierung dem medizinischen Personal gegenüber nicht outen.

Schwanger werden

Die Möglichkeiten schwanger zu werden oder ein Kind zu zeugen, sind für Trans- und nicht-binäre Menschen vor allem davon abhängig, in welcher Beziehungskonstellation sie leben und welche reproduktiven Organe in dieser Beziehungskonstellation (noch) vorhanden sind. Eine Transition kann unterschiedliche Schritte beinhalten: Personenstandsänderung, Hormontherapie, Logopädie und Phonochirurgie, Epilation, Adamsapfelkorrektur, Operationen im Brust- und Genitalbereich und gesichtsfeminisierende Operationen. Nicht jeder Mensch, der transitioniert, möchte alle diese Schritte gehen. Ein Teil der Transmänner entscheidet sich, seine reproduktiven Organe zu behalten. Manche in Hinblick auf eine zukünftige Familienplanung, andere auch einfach, weil sie keine Dysphorie aufgrund ihrer reproduktiven Organe empfinden und eine Operation vermeiden wollen. Die aktuelle AWMF Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: Diagnostik, Beratung, Behandlung“ empfiehlt ausdrücklich, dass Transpersonen vor Beginn körperverändernder Maßnahmen über die Möglichkeiten, Grenzen und Risiken der Reproduktionsmedizin informiert werden sollen [4].

Es gibt also Transmänner, die ohne reproduktionsmedizinische Unterstützung schwanger werden können, manche auch in ihrer Beziehung. Sollte zuvor eine Testosterontherapie begonnen worden sein, muss diese vor einer Schwangerschaft unbedingt abgesetzt werden. Testosteron verhindert vor allem in den ersten Monaten der Einnahme zwar keine Schwangerschaft, wirkt aber teratogen auf den Embryo. Bei bereits länger bestehender Hormontherapiemit Testosteron setzt meist innerhalb von drei bis zwölf Monaten eine Amenorrhoe ein [5]. Wie schnell sich nach Absetzen von Testosteron wieder eine regelmäßige Periodenblutung einstellt, ist ebenfalls sehr unterschiedlich. Zum Teil schon vier Wochen nach Beendigung der Hormontherapie, manchmal aber auch erst nach mehreren Monaten. Transmänner, die in Beziehungen ohne die Möglichkeit einer spontanen Schwangerschaft leben oder diebeschließen, alleine Elternteil zu werden, brauchen Unterstützung bei der Umsetzung ihres Kinderwunsches. Ihre Situation gleicht dann der vieler lesbischer Paare oder Single-Mütter, die entweder auf eine private Samenspende zurückgreifen oder mithilfe einer Samenbank eine Insemination versuchen. Da in Deutschland seit 2018 mit dem Samenspenderregistergesetz [6] die Lieferung von Sperma an Privatpersonen unmöglich geworden ist, sind die potenziellen Eltern oder der potenzielle Elternteil auf Unterstützung durch medizinisches Fachpersonal angewiesen. Die häufigste und einfachste Form der assistierten Reproduktion in diesem Kontext ist die intrauterine Insemination.

Gibt es über die Familienkonstellation hinaus weitere Gründe für eine Unfruchtbarkeit, kommt auch eine In-Vitro-Fertilisation in Frage. Die Abklärung der Unfruchtbarkeit sollte dann nach üblichem Schema erfolgen. Bei Überweisung von Patienten ans Kinderwunschzentrum oder ins Krankenhaus ist es eventuell sinnvoll, den Patienten dort vorher telefonisch anzukündigen, um Diskriminierungserfahrungen vorzubeugen.

Schwangerschaftsvorsorge

Gynäkologische Praxen sind für viele Transmenschen schwierige Orte. Kam der werdende Vater nicht schon bei der Planung der Schwangerschaft mit dem Gesundheitswesen in Kontakt, ist spätestens bei Eintritt einer Schwangerschaft eine Vorstellung in einer gynäkologischen Praxis oder bei einer Hebamme unvermeidlich. Gerade die erste Vorstellung in der Praxis ist häufig mit viel Angst vor Diskriminierung verbunden. Viele Transmänner meiden deshalb vor der Schwangerschaft medizinische Behandlungen [7]. Eine Schwangerschaft ist für viele Menschen eine Phase der besonderen Vulnerabilität. Es ist also besonders wichtig, dem betreuten Patienten eine akzeptierende und wohlwollende Grundhaltung zu signalisieren. Gerade die Verwendung des gewählten Namens und Pronomens sollte unbedingt respektiert werden. Unangebrachte Fragen, die keine medizinische Relevanz haben, sondern nur die persönliche Neugierde befriedigen, sollten vermieden werden. Auch das Praxispersonal sollte entsprechend angewiesen und geschult werden. Wenn der Patient eine andere Anrede wünscht, als diejenige, die dem auf der Krankenkassenkarte hinterlegtem Geschlecht entspricht, sollte dieses in der Patientenakte vermerkt werden.

Der erste Termin sollte genutzt werden, um ein Vertrauensverhältnis zwischen der betreuenden Frauenärztin und dem Patienten zu etablieren. Vor jeder Untersuchung sollte das Einverständnis des Patienten eingeholt werden. Es ist auch hilfreich, dem Patienten den Sinn und Zweck der jeweiligen Untersuchung zu erklären, damit für ihn nicht der Eindruck entsteht, nur das Objekt medizinischer Neugierde zu sein. Eventuell können Alternativen zu unangenehmen Untersuchungen angeboten werden. Bei schlanken Patienten ist eine Sonographie von abdominal auch in frühen Schwangerschaftswochen häufig ausreichend.

Bei einer notwendigen gynäkologischen Untersuchung kann dem Patienten angeboten werden, diese auf den nächsten Termin zu verschieben. Kann der Patient selber über den Zeitpunkt der Untersuchung entscheiden, fühlt sich die Transmänner erhalten ihr Testosteron entweder als intramuskuläre Depotspritze oder als Testosterongel. Das Gel wird täglich aufgetragen, das Depotpräparat muss alle paar Wochen erneuert werden. Die Dosierung kann individuell unterschiedlich ausfallen. Situation weniger fremdbestimmt an. Manche Transmänner fühlen sich sehr unwohl, wenn ihre Körperteile mit den Namen weiblicher Geschlechtsorgane benannt werden. Es hilft, den Patienten am Anfang zu fragen, mit welchen Bezeichnungen der Geschlechtsorgane er sich am wohlsten fühlt (z. B. Uterus statt Gebärmutter).

Im weiteren Verlauf der Vorsorgen können auch die Vorstellungen und Wünsche des Patienten in Hinblick auf die Geburt erfragt werden. Ängste und Sorgen sollten thematisiert werden, um diese wenn möglich abzubauen oder dem Patienten zu ermöglichen, konstruktive Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

Eine wichtige Ressource kann die Begleitperson bei der Geburt sein. Der Patient sollte ermutigt werden, vorab mit seiner Begleitperson zu besprechen, welche Unterstützung er sich von ihr wünscht, zum Beispiel bei Misgendern durch das Klinikpersonal. Diese Sorgen auslagern zu können, kann helfen, sich ganz auf die Geburt einzulassen. Aufgrund der mangelnden Zeit in der Praxis für die psychosoziale Begleitung kann es eventuell sinnvoll sein, dem Patienten zusätzlich eine Hebammenbegleitung, auch für die Zeit vor der Geburt, zu empfehlen.

Abrechnung der Schwangerschaftsvorsorge

Mit Wirkung zum 1. Juli 2019 trat die Änderung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EMB) in Kraft, welche die Abrechnung von geschlechtsspezifischen Gebührenordnungspositionen auch bei Transsexualität ermöglicht [8]. Es ist seitdem möglich, die Leistungen der Schwangerschaftsvorsorge auch bei Männern abzurechnen, dabei muss als Begründung der ICD-10- Code für Transsexualität angegeben werden.

Geburt

Was für die Schwangerschaftsvorsorge gilt, ist natürlich auch bei der Geburtsbegleitung unverzichtbar: Der Respekt vor der Identität des betreuten Schwangeren und die bestmögliche medizinische und emotionale Betreuung. Der angestrebte Geburtsmodus ist auch bei Transmännern eine individuelle Entscheidung.

Wochenbett und Stillzeit

Eine wichtige Frage für viele Transmänner ist es, wann sie nach der Geburt wieder mit einer Hormonbehandlung anfangen können. Leider gibt es hierzu wenige verlässliche Daten, häufig wird jedoch ein Zeitraum von sechs Wochen oder drei Monaten genannt [9]. Kann und will der Vater stillen, muss das Ende der Stillzeit abgewartet werden. Bei den Applikationsformen empfiehlt sich postpartal eher die intramuskuläre Applikation als Depotpräparat. Bei der täglichen transdermalen Applikation als Gel besteht bei mangelnder Vorsicht die Gefahr der Übertragung auf das Neugeborene.

Ist der gebärende Vater nicht mastektomiert, kann er selbstverständlich stillen, wenn er dies möchte. Nach einer Mastektomie mit freier Nippeltransplantation ist das Stillen meist nicht möglich, da die Milchgänge durchtrennt wurden. Da jedoch immer ein Rest Drüsengewebe erhalten wird, kann es trotzdem zu einem schmerzhaften Milcheinschuss kommen. Der Patient sollte dann über die verschiedenen Methoden des primären Abstillens beraten werden. Wurden die Nippel bei der Mastektomie nicht transplantiert, ist Stillen eventuell möglich, da immer ein Rest von Drüsengewebe vorhanden ist und die Milchgänge zum Teil erhalten sind [10]. Jedoch ist die Milchmenge wahrscheinlich nicht ausreichend. In diesem Fall kann ein Brusternährungsset helfen, wenn der Wunsch zu stillen besteht. Die Beratung einer speziell ausgebildeten Stillberaterin kann hierbei zusätzlich hilfreich sein. Auch der nicht-gebärende Elternteil kann eventuell durch induzierte Laktation stillen. Da dies wenig bekannt ist und einer ausreichenden Vorbereitungszeit bedarf, sollte das Paar schon in der Schwangerschaft auf diese Möglichkeit hingewiesen werden. Dabei kann theoretisch jede Person mit Brüsten stillen, also auch Transfrauen [11], wenn sie bereits eine Hormontherapie begonnen haben und darunter ein Brustwachstum stattgefunden hat. Die Stimulation erfolgt durch regelmäßiges Abpumpen über mehrere Wochen und gegebenenfalls einer medikamentösen Unterstützung mit Domperidon. Zusätzlich ist vorher eine hormonelle Vorbereitung der Brust mit der Antibabypille möglich, jedoch nicht Voraussetzung. Für weitere Details ist insbesondere das Protokoll der Canadian Breastfeeding Foundation empfehlenswert [12].

Fazit

Transmenschen erhoffen sich von ihren betreuenden Ärzt*innen dasselbe wie alle anderen Patient*innen auch: eine fachlich gute Betreuung und einen empathischen menschlichen Umgang. Aufgrund bereits erlebter Diskriminierungen können manche Transmenschen misstrauisch gegenüber dem Gesundheitspersonal sein. Bemühen sich jedoch beide Seiten um einen offenen Umgang mit Unsicherheiten und Fragen, kann sich ein vertrauensvolles Ärztin-Patienten-Verhältnis entwickeln. Grundvoraussetzung ist in jedem Fall eine akzeptierende Haltung der Ärztin, welche die Identität des Patienten nicht in Frage stellt.

Bei vielen Ärzt*innen bestehen auch Unsicherheiten bezüglich der Rechtslage. In keinem Bundeslandmachen sich Ärzt*innen strafbar, wenn sie lesbische, alleinstehende oder Transmenschen in ihrem Kinderwunsch unterstützen. Rechtsunsicherheit besteht vielmehr für Transeltern und nicht-gebärende Eltern ohne männlichen Personenstand, die im aktuellen Abstammungsrecht nicht adäquat abgebildet werden. Es steht zu hoffen, dass die amtierende Regierung die im Koalitionsvertrag [ 21] versprochene Reform des Abstammungsrechts bald umsetzt.

Gesetzliche Regelungen in Deutschland

Abstammungsrecht: Die gebärende Person ist die Mutter und wird als solche in der Geburtsurkunde des Kindes eingetragen [13]. Transmänner werden, auch nach vollzogener Personenstandsänderung, mit ihrem Geburtsvornamen in die Geburtsurkunde ihres Kindes eingetragen. Der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter verheiratete Mann ist der rechtliche Vater [14]. Gebärt ein Transmann ein Kind und ist mit einer Frau verheiratet, muss diese (genau wie bei lesbischen Paaren) das Kind adoptieren. Eine „Mutterschaftsanerkennung“ äquivalent zur Vaterschaftsanerkennung bei nicht verheirateten hetero-cis Paaren existiert bislang nicht [15,16].
TSG: Das 1981 eingeführte Transsexuellengesetz ermöglicht die Personenstands- und Vornamensänderung von einem Geschlecht zu einem anderen. Voraussetzung ist ein Antrag beim Amtsgericht, welches zwei psychiatrische Gutachten beauftragt. Das TSG sah auch bis 2011 die „dauerhafte Fortpflanzungsunfähigkeit“ als Voraussetzung an. In den letzten Jahren wurde am TSG vermehrt kritisiert, dass es Transmenschen pathologisiert, veraltete Geschlechterrollen reproduziert und eine übertriebene finanzielle und zeitliche Hürde darstellt [17].
Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben: Dieses 2018 eingeführte Gesetz führte als dritten Geschlechtseintrag divers ein. Seitdem besteht die Möglichkeit, mit einem einfachen ärztlichen Attest, welches eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ attestiert, den eigenen Vornamen und Personenstand ändern zu lassen. Vom Gesetzgeber war die Anwendung des Gesetzes nur auf intersexuelle Menschen vorgesehen, jedoch wird es auch von Transmenschen genutzt, da es im Vergleich zum TSG mit viel weniger Hürden verbunden ist [18]. Selbstbestimmungsgesetz: Ein solches existiert bisher nicht. Es wurde bereits im Mai 2021 von den Grünen imBundestag eingereicht, von der damaligen Koalition jedoch abgelehnt. Die aktuelle Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag die Umsetzung des Selbstbestimmungsgesetzes in Aussicht gestellt. Dieses sieht die Abschaffung des TSG und die Möglichkeit einer Vornamens- und Personenstandsänderung durch einen einfachen Antrag beim Standesamt vor [19].
Zulässigkeit der künstlichen Befruchtung bei Transmännern: Das Embryonenschutzgesetz unterscheidet nicht danach, ob die Person, bei der eine künstliche Befruchtung vorgenommen wird, in einer gleichgeschlechtlichen oder verschiedengeschlechtlichen Partnerschaft lebt. Über Transmänner wird sich nicht explizit geäußert. Häufige Bedenken bestehen bei Mediziner*innen aufgrund der ärztlichen Berufsordnung der jeweiligen Landesärztekammern, da diese in der Vergangenheit zum Teil eine künstliche Befruchtung bei lesbischen Paaren und Singlefrauen untersagt haben. Dies ist jedoch nicht mehr der Fall. Eine ausführliche Auflistung der genauen Rechtslage in den einzelnen Bundesländern findet sich auf der Website des Lesben-undSchwulenverbandes [20]. Weder die Bundesärztekammer noch die jeweiligen Landesärztekammern untersagen eine künstliche Befruchtung bei lesbischen Paaren oder Singlefrauen. Über Transmänner wird auch hier keine Aussage getroffen. Die Entscheidung liegt also alleine beidemjeweiligen Reproduktionsmediziner und eine standesrechtliche Verfolgung muss nicht befürchtet werden.

Fallbeispiel Alex L.

Der 34-jährige Alex L. stellt sich in der 7. SSW zum ersten Mal in der Frauenarztpraxis vor. Mit 23 Jahren stellte er sich erstmals mit dem Wunsch nach einer Transition bei seiner Psychotherapeutin vor und beantragte zeitgleich seine Namens- und Personenstandsänderung beim Amtsgericht. Ein halbes Jahr später begann er mit der Testosterontherapie und zwei Jahre später erfolgte die Mastektomie. Er lebt nun seit fünf Jahren in einer festen Partnerschaft mit einem Cis-Mann. Da sich beide Männer ein gemeinsames Kind wünschen, hat Alex L. vor acht Monaten seine Testosterontherapie abgesetzt. Nach drei Monaten bekam er wieder einen regelmäßigen Zyklus und wurde nochmals drei Monate später von seinem Partner schwanger. Bei der ersten Vorstellung in der Frauenarztpraxis erscheint er sehr angespannt. Die Gynäkologin nimmt sich Zeit, um auf seine Fragen einzugehen und bietet ihm dann an, zunächst einen Ultraschall über den Bauch zumachen. Sie stellt eine intakte intrauterine Gravidität fest. Alex L. ist am Ende des Termins deutlich entspannter.

Anamnese: IIG 0P, Z.n. 1x Schwangerschaftsabbruch vor zwölf Jahren, Z.n. Mastektomie vor neun Jahren.

Verlauf: Nach dem ersten Termin fühlt sich Alex L. deutlich sicherer in der behandelnden Frauenarztpraxis und sucht diese auch weiterhin für jede zweite Vorsorgeuntersuchung auf. Parallel hat er eine Hebamme gefunden, die ihn und seinen Partner durch die Schwangerschaft begleitet und dieanderenVorsorgeuntersuchungendurchführt.BisaufeineHyperemesis im ersten Trimester gestaltet sich der Schwangerschaftsverlauf komplikationslos. Für die Geburt entscheidet sich Alex L. ins nahegelegene Geburtshaus zu gehen, da er sich dort mit seiner Transidentität besser aufgehoben fühlt als in der örtlichen Universitätsklinik. Es kommt zum komplikationslosen Spontanpartus. Die beiden Väter nennen ihre Tochter Madita.

Zusammenfassung

In den letzten Jahren hat die mediale Berichterstattung und damit auch die Sichtbarkeit von Transmenschen stark zugenommen. Auch Schwangerschaften von Transmännern wurden zum Teil in den Medien rezensiert. Dabei geht es selten über eine sensationsheischende Darstellung hinaus. Gerade auch medizinischem Fachpersonal fehlt es häufig an Wissen und Verständnis, um Transmenschen respektvoll und medizinisch korrekt zu begleiten. Der vorliegende Artikel leistet einen Beitrag, dies zu verbessern. Insbesondere geht es um die Schwangerschaft von Transmännern. Dabei sind immer alle Menschen gemeint, die sich nicht als Frau identifizieren und schwanger werden können, also auch nicht- binäre Menschen. Wurden die Geschlechtsorgane bei der Transition erhalten, können Transmänner nach Absetzen der Hormontherapie in der Regel problemlos schwanger werden. Je nach BeziehungskonstellationkönnenaucheineSamenspendeundeineassistierte Reproduktion notwendig werden. Die medizinische Betreuung in der Schwangerschaft unterscheidet sich nicht grundlegend von der Schwangerschaftsvorsorge bei Frauen, jedoch sollte besonders darauf geachtet werden, die Identität des Schwangeren zu respektieren.

Schlüsselwörter: Trans* – nicht-binär – genderqueer – Elternschaft – Abstammungsrecht – TSG– assistierte Reproduktion

 

Summary

The pregnant father – on medical care für pregnant trans men and non-binary pregnant individuals
N. Mehring

In recent years,media reporting and thus the visibility of trans people has increased significantly. Pregnancies of transmen were also partially reviewed in the media, although it rarely goes beyond a sensational presentation. Medical professionals often lack the knowledge and understanding to accompany trans people in a respectful and medically correct manner [22]. This article contributes toimprovingthedescribed situation. In particular, it is about the pregnancy of trans men, including all people who do not identify themselves as women but can become pregnant. If the sexual organs were preserved during the transition, transmen can usually become pregnant without anyproblems after stopping hormone therapy. Depending on the relationship constellation, sperm donation and assisted reproduction may be necessary. Medical care during pregnancy is not fundamentally different from prenatal care for women, but special care should be taken to respect the identity of the pregnant individual. Last but not least, many fathers who give birth suffer from the current law of descent, which prevents them from appearing as the father and with their valid first name on their child’s birth certificate.

Keywords: trans* –non-binary –genderqueer –parenthood–parental right – TSG– assisted reproduction

Interessenkonflikt:

Der Autor erklärt, dass bei der Erstellung des Beitrags kein Interessenkonflikt im Sinne der Empfehlung des International Committee of Medical Journal Editors bestand.

Korrespondenzadresse:
Nathan Mehring
Assistenzarzt für Gynäkologie und Geburtshilfe
Bürgerhospital Frankfurt
Nibelungenallee 37–41
60318 Frankfurt
nathan.mehring@icloud.com

Der Autor führt Seminare zum professionellen Umgang mit transidenten Menschen in der gynäkologischen Versorgung durch. Zuvor war er jahrelang in der Antidiskriminierungsarbeit zu geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung bei SCHLAU Frankfurt aktiv.

 

 

Slide Der schwangere Vater – Zur medizinischen Versorgung von schwangeren Transmännern und nicht-binären schwangeren Personen Gyne 04/2022
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