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Gyne 06/2025

Versorgungsbedarfe von ungewollt Schwangeren in vulnerablen Lebenslagen

Autorinnen:

P. J. Brzank, D. Jepsen

Hintergrund der Fokussierung

Die Studie „Erfahrungen und Lebenslagen von ungewollt Schwangeren – Angebote der Beratung und Versorgung“ (ELSA) erfasste im Forschungsverbund mit MethodenMix die sozialen und gesundheitlichen Belastungen und Ressourcen der Frauen mit dem Ziel, empirisch basiert Empfehlungen für die Verbesserung der Unterstützung und Versorgung von Frauen mit ungewollter Schwangerschaft (uS) abzuleiten [1]. Das Teilprojekt für vulnerable Gruppen (ELSA-VG) der Hochschule Nordhausen fokussierte schwangere Frauen mit Migrationsbiografie (MIG) und/oder Gewalt in der Paarbeziehung (GiP) in der Schwangerschaft. Nachfolgend werden für die medizinische Versorgung relevante Erkenntnisse vorgestellt. Besondere Lebenslagen provozieren Vulnerabilität. Das Risiko einer uS ist erhöht, zur Verfügung stehende Ressourcen und deren Nutzung werden gemindert und die Handlungsfähigkeit der ungewollt Schwangeren ist beschränkt.

Personen mit MIG sind grundsätzlich sehr divers (Herkunftsland, Kultur, Tradition, Biografie, Status, Migrationsmotiv). Dennoch ist bei ihnen meist ein schlechterer Gesundheitszustand zu beobachten als bei Personen ohne MIG [2]. Durch die eigene oder familiäre Migrationsbiografie haben sie zudem meist ähnliche Erfahrungen im Beratungs- und Versorgungssystem gemacht.

Zwischen GiP und uS sowie Schwangerschaftsabbruch (SAB) ist eine Wechselbeziehung belegt. GiP kann eine uS verursachen – durch reproduktive Kontrolle oder Nötigung, Verhütungssabotage oder Zwang zur Schwangerschaft, durch Vergewaltigung oder die Beeinflussung der Entscheidung. Umgekehrt kann eine Schwangerschaft GiP auslösen oder zur Eskalation führen. Der gewalttätige Partner kann die Schwangerschaft zur Stabilisierung seiner Kontrolle nutzen.

Studienpopulation

Die Gesamtstichprobe für beide Gruppen bestand aus n = 5.101 Frauen mit gewollter und ungewollter Schwangerschaft aus einer Einwohnermeldestichprobe sowie Sonderstichproben [1].

Frauen mit Migrationsbiografie

24,4 % der befragten Frauen hatten eine MIG. 6,7 % dieser Frauen berichten, dass Flucht oder Asyl sie zum Verlassen ihres Herkunftslandes gebracht hatten. Zur ersten Generation, also nicht in Deutschland geboren, gehörten 59,7 % der befragten Frauen mit MIG. 40,0 % gehörten zur zweiten Generation (in Deutschland geboren). 66,3 % der Befragten besitzen die deutsche und 40,1 % eine andere oder mehrere Staatsangehörigkeiten.

Die Migration nach Deutschland war bei 37,9 % aus familiären Gründen erfolgt, bei 19,9 % zur Arbeitsaufnahme und bei 12,4 % zu Studien- oder Ausbildungszwecken. Unter den Frauen ohne deutsche Staatsangehörigkeit hatten die meisten eine Aufenthalts- oder Niederlassungserlaubnis.

Frauen mit Gewalt in der Paarbeziehung während der Schwangerschaft

6,5 % der Gesamtstichprobe aus gewollt und ungewollt Schwangeren und 13,8 % der ungewollt Schwangeren berichteten über mindestens eine Gewaltform während der Schwangerschaft. Am häufigsten waren psychische und physische Gewalt. Es zeigte sich eine hohe Überschneidung von physischer, psychischer und sexueller Gewalt.

 

Die Mehrzahl der betroffenen Frauen (74,6 %) hatte bereits vor der Fokusschwangerschaft (FS) erstmals GiP erlitten, 16,8 % während der FS zum ersten Mal. Die FS führte in diesen Fällen also zu Gewalt. Nach Bekanntwerden der FS verringerte sich bei 25,1 % die Gewalt, bei 45,6 % blieb sie gleich und bei 29,3 % trat sie häufiger auf. Unterschiede zeigen sich in verschiedenen Aspekten im Hinblick auf den Kontext der FS.

Signifikant sind die Unterschiede zwischen den Frauen mit bzw. ohne GiP hinsichtlich der Gewolltheit sowie dem Ausgang der FS. Anhand dieser Gruppenunterschiede ergibt sich eine fünffach höhere Wahrscheinlichkeit für eine uS als Folge von sexualisierter Gewalt (OR [Odds Ratio] = 5,6; 95 %-KI [Konfidenzintervall] = 4,3–7,1) und eine dreifach höhere Wahrscheinlichkeit für den SAB (OR = 3,039; 95 %-KI = 2,3–3,9). Obwohl 8 % der Frauen angaben, dass die FS das Resultat von erzwungenem Sex war, gab keine Frau einen SAB gemäß kriminologischer Indikation an.

Lebenslage

Die Lebenslage der Zielgruppen ist im Vergleich zur gesamten Studienpopulation als prekärer einzustufen.

Innerhalb der Gruppe der Frauen mit MIG zeigten sich signifikante soziodemografische Unterschiede – meist ohne große Effektstärke zwischen ihnen und Frauen ohne MIG sowie bei ihren Partnern. Der Fokus lag auf Bildungsabschlüssen, hauptsächlicher Tätigkeit vor der Schwangerschaft und Erwerbsumfang. Folglich beziehen Frauen mit MIG häufiger staatliche Transferleistungen.

Frauen mit GiP in der Schwangerschaft unterscheiden sich signifikant im Hinblick auf Bildungsabschluss, Erwerbssituation, Erwerbsumfang während der Schwangerschaft sowie Bezug staatlicher Transferleistungen während der Schwangerschaft. Ihre finanzielle Situation hätte sich mit einem weiteren Kind häufiger verschärft oder die Wohnsituation verschlechtert. Häufiger berichten sie von verschiedenen Formen von Kindheitstraumata sowie psychischen Problemen oder Diagnosen.

Eine prekäre Lebenslage ist meist nicht die Ursache, sondern die Folge von GiP [3]. Die große Mehrzahl aller Frauen befand sich in einer Paarbeziehung, gleichwohl war diese bei ihnen signifikant häufiger durch größere Instabilität gekennzeichnet Ihre Beziehung war öfter in einer starken Krise. Der Partner hatte eine zwiespältige Einstellung zur FS oder sie war Anlass für Streit und Stress. Die Frauen berichteten bei der Feststellung der FS signifikant seltener von positiven Gefühlen (Freude/Glücksgefühle; Zuversicht, dass alles gut wird) und stattdessen häufiger von negativen Gefühlen (Sorge vor den Reaktionen nahestehender Personen, Zukunftsängste, Sorgen wegen der Lebensumstände, Unsicherheit, Überforderung, Schuld, Scham, Selbstvorwürfe, Erschrecken, Verzweiflung, Stress, Genervtsein). Die Akzeptanz der FS war signifikant häufiger eingeschränkt.

Erfahrungen in der medizinischen Versorgung

Frauen mit MIG unterscheiden sich im Hinblick auf die Behandlung kaum von den Frauen ohne MIG. Allerdings benennen sie häufiger Unsicherheiten in der I nformationssuche zu einer uS. Sie wissen häufiger nicht, wo sie  suchen sollen oder die gefundenen Informationen verunsichern sie. Der Wunsch nach Geheimhaltung der uS ist größer, sodass viele Frauen mit MIG nicht ihre feste gynäkologische Praxis aufsuchen – oder erst gar keine feste Praxis haben.

Insgesamt finden sich Frauen mit MIG im Beratungs- und Versorgungssystem zurecht, allerdings besteht Bedarf an verständlichen, zum Teil muttersprachlichen Informationen über eine (ungewollte) Schwangerschaft. Häufiger wünschen sie sich Unterstützung bei uS und SAB.

Obwohl das Gespräch mit Fachärztin oder -arzt mehrheitlich als gut bewertet wird, belastet es jede dritte Frau und jede fünfte erhielt ungebeten Informationen, beispielsweise zur Familienplanung (Verhütung, Kinderwunsch). Seltener wurde den Frauen das Ultraschallbild ungefragt gezeigt.

Frauen mit MIG berichten im Vergleich zur gesamten Studienpopulation seltener von freundlicher, respektvoller und einfühlsamer Versorgung. Entscheidend für ihre Wahl der SAB-Einrichtung waren schnelle Terminvergabe, gute Erreichbarkeit und Anonymität. Bei den Frauen mit MIG wurde der Abbruch häufiger frühzeitig (bis zur siebten Schwangerschaftswoche) durchgeführt und ihnen entstand seltener Zeitdruck durch lange Entscheidungsfindung als Frauen ohne MIG.

Frauen mit GiP berichteten im Vergleich mit der Gesamtstudienpopulation häufiger von nicht gewahrter Privatsphäre bei der Schwangerschaftsfeststellung in der Praxis. Außerdem davon, dass ihre Meinung nicht respektiert wurde, die fachärztliche Begleitung zu wenig Zeit hatte und sie kein Vertrauen in diese fanden. Zudem erhielten sie häufiger ungebetene Informationen zur Geburt sowie zur möglichen Abgabe des Kindes, Adoption und vertraulicher Geburt. Die Behandlung durch das medizinische Personal beschreiben sie im Vergleich seltener als respektvoll, freundlich/einfühlsam, neutral/sachlich. Stattdessen wurde die Behandlung häufiger als unfreundlich empfunden und die Patientinnen wurden häufiger mit Vorwürfen konfrontiert und zum Austragen der FS angehalten.

Erschreckend hoch ist der Anteil an Frauen beider Gruppen mit stark belastenden Gefühlen wie Scham/Schuld,         Selbstvorwürfe, Verzweiflung oder Stress.

Entscheidungsfindung

Frauen mit GiP entschieden über den Ausgang der uS oft unter sehr hohem Zeitdruck, was häufig auf die späte Feststellung der uS und Wartezeiten auf einen Termin lag. Sie entschieden häufiger ohne den Partner zu informieren, berichten aber auch häufiger, dass der Partner die Entscheidung traf. Insgesamt waren ihre Entscheidungsmöglichkeiten stark eingeschränkt.

Die Entscheidungsfindung wurde bei den Vergleichsgruppen kaum durch die Beratung oder die Bedenkzeit beeinflusst.

Gesundheitliche Selbsteinschätzung

Frauen mit MIG schätzen im Vergleich zur Gesamtheit der Studienteilnehmerinnen sowohl ihre psychische als auch körperliche Gesundheit signifikant schlechter ein – dies zu allen drei erfragten Zeitpunkten (vor / während / drei Monate nach Ausgang der Schwangerschaft). Der psychische Zustand innerhalb der Gruppe mit MIG variierte nicht signifikant zwischen dem Zeitpunkt vor und nach der Schwangerschaft. Folglich besteht kein statistischer Zusammenhang zwischen einem SAB und einer schlechteren psychischen Gesundheit. Nach einem SAB ging es den Frauen mit MIG körperlich signifikant besser.

Frauen mit GiP bewerten ihre psychische Gesundheit schlechter als die Vergleichsgruppe. Ihre Gesundheit nach Abbruch/Austragen der uS verbessert sich jedoch deutlich stärker und nahm innerhalb dieser Gruppe den höchsten Wert im Vergleich der drei Zeitpunkte ein (▶ Abb. 4). Ein negativer Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und einem SAB kann statistisch nicht belegt werden.

Fazit

Für Frauen mit MIG zeigten sich keine relevanten Unterschiede in Prävalenz und Erleben einer uS sowie eines SAB; dies weist auf eine Stichprobenverzerrung hin. In Beratung und Versorgung sind muttersprachliche Informationen und ein respektvoller Umgang wichtig, der dem Wunsch nach Geheimhaltung der uS entspricht. Eine paternalistische Beziehung, die Frauen mit MIG nicht als gleichwertig und selbstbestimmt wahrnimmt, ist zu vermeiden.

Frauen mit GiP haben ein deutlich erhöhtes Risiko für uS und SAB. Ihre sozialen und ökonomischen Lebenslagen sind prekärer; soziale Isolation verstärkt die Vulnerabilität dieser Frauen. Beratungsstellen haben für sie einen größeren Stellenwert. Ihre Entscheidungsmöglichkeiten sind stark eingeschränkt; Beratung und Versorgung müssen Entscheidungen ernst nehmen.

Im Vergleich zeigten sich größere Bedarfe an sensibler Unterstützung und Versorgung. Bei beiden Zielgruppen wird die Informationsbeschaffung häufiger durch die Angst beeinträchtigt, negativ beurteilt zu werden. Für die Frauen mit GiP zeichnet sich ein großes Dilemma ab. Bei Ihnen besteht ein erhöhter Bedarf durch:

  1. Hohes Risiko für uS und SAB
  2. soziale Isolation durch GiP
  3. Größere Bedeutung von Beratungsstellen sowie Beratung in der Gesundheitsversorgung

Gleichzeitig ist der offene Austausch erschwert durch:

  1. Gesellschaftliches Verschweigen von GiP
  2. Tabuisierung und Stigmatisierung von uS sowie SAB
  3. Idealisierung von Schwanger-schaft und Mutterschaft

Dieses Dilemma macht von GiP betroffene Frauen zu einer schwer erreichbaren Zielgruppe. Schuld, Scham, Angst vor dem gewalttätigen Partner und seiner Kontrolle, Isolation und das Verwehren medizinischer/psychosozialer Versorgung erschweren dies noch weiter.

Grundsätzlich ist eine Schwangerschaft eine Umbruchsituation und betroffene Frauen sind offener für sensible Ansprache. Die gesundheitliche Vorsorge bietet besondere Interventions- und Präventions chancen gemäß des S.I.G.N.A.L. Interventionsprogramms. Hierbei ist ein sensibles Ansprechen von Gewalt ohne Schuldzuweisung zu beachten. Die Frauen sollen gestärkt aus der Beratung hervorgehen. Die Voraussetzung hierfür sind eine Sensibilisierung und das Aneignen von Fachwissen. Die Istanbul-Konvention bietet hierfür die rechtliche Grundlage.

Gewalt ist kein Schicksal, sondern kann verhindert werden.
Etienne Krug, 2008

Interessenkonflikte:

Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Sinne der Empfehlungen des International Committee of Medical  Journal Editors bestanden.

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Petra J. Brzank, Dipl. Soz, MPH
Hochschule Nordhausen Weinberghof 4, 99734 Nordhausen
petra.brzank@hs-nordhausen.de

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