Gyne 04/2019
Neben den Genen – eine Einführung in die Epigenetik
Autor:
P. Spork
Einleitung
Programme zur Prävention von Alters- und Volkskrankheiten empfehlen in der Regel eine ausgewogene Ernährung, ausreichenden Schlaf und vor allem regelmäßige körperliche Aktivität. Sie berufen sich dabei auf eine Fülle epidemiologischer Studien, die keinen Zweifel daran lassen, dass derartige Lebensstilfaktoren unsere Gesundheit positiv beeinflussen können. Gleichzeitig ist aber sehr wenig über die zugrunde liegenden physiologischen und molekularbiologischen Prozesse bekannt. Nicht nur an diesem Punkt verändert sich derzeit dank einer jungen Wissenschaft das Bild. Die Epigenetik ist eine Tochterdisziplin der Genetik und scheint die entscheidende Schnittstelle zwischen Umwelteinflüssen und Lebensstilfaktoren auf der einen Seite sowie der Regulation der Gene in den einzelnen Organen, Zellen undGeweben auf der anderenSeite zu sein.
Die Epigenetik erklärt, wie es äußeren Signalen gelingt, das tiefste Innere der menschlichenPhysiologie –dieGenregulation – mehr oder weniger dauerhaft zu prägen. Damit erklärt sie auch, wie es höhere Lebewesen schaffen, sich sogar binnen kurzer Zeiträume an wandelnde Umweltbedingungen anzupassen. Und sie erklärt, warum die perinatale Phase – die Zeit im Mutterleib und ungefähr im ersten Lebensjahr – sobesonderswichtigfürdie spätere Widerstandskraft eines Menschen ist. In dieser Zeit reifen diemeisten Organe, weshalb sie besonders sensibel und tiefgreifendmit epigenetischen Veränderungen auf äußere Einflüsse reagieren (für eine ausführliche Einführung in die Epigenetik siehe [1], für neueste Erkenntnisse zur perinatalen Programmierung und dem aus der Epigenetik resultierenden gewandelte Verständnis vonGesundheit siehe [2]) .
Die Epigenetik untersucht dabei nicht den eigentlichen Code des zentralen Erbgutmoleküls Desoxyribonukleinsäure (DNA). Er ist beim Menschen ein rund 3,3 Milliarden „Buchstaben“ umfassender und auf mehrere Chromosomen verteilter „Text“, der aus den vier möglichen Nukleotiden der DNA zusammengesetzt ist. Die Epigenetik beschäftigt sich stattdessen mit biochemischen Anhängseln, die entweder direkt an die DNA oder an mit der DNA assoziierte Proteine angelagert werden und die Aktivierbarkeit der Gene verändern. Das heißt, epigenetische Veränderungen lassen das genetische Erbe – den Text der Gene – völlig unberührt. Sie beeinflussen aber, ob und wie gut die Zelle bestimmte Gene ablesen kann. Damit hat die Epigenetik entscheidenden Einfluss auf den Phänotyp von Zellen undGeweben – und somit auf unser Erkrankungsrisiko.
Eine gesunde Lebensweise sowohl der Eltern vor und während der Schwangerschaft als auch der Kinder in den ersten Lebensjahren verbunden mit geringen Mengen an toxischem Stress und einer guten Eltern- Kind-Bindung entfalten deshalb sehr wahrscheinlich eine bis ins Alter anhaltendepräventiveWirkung. Neueste Studien legen nahe, dass dadurch sogar die Gesundheit mehrerer folgender Generationen positiv beeinflusstwerden kann [2].
Das zelluläre Gedächtnis für Umwelteinflüsse
Zentrale Aufgabe epigenetischer Markierungen ist es, die Identität der Zelle festzulegen, etwa als eine der rund 300 verschiedenen Zelltypen des Körpers. Nerven-, Haut- oder Muskelzellen sind zum Beispiel völlig verschieden, obwohl sie genetisch nahezu identisch sind. Sie arbeiten aber in verschiedenen epigenetischen Programmen. Auch für die Ausdifferenzierung von pluripotenten Stammzellen über Vorläuferzellen zu spezifischen, so genannten adulten oder reifen Zellen sind Veränderungen der zellulären Epigenome verantwortlich.
Als Epigenom wird dabei die Gesamtheit der epigenetischen Strukturen in der Zelle bezeichnet, vergleichbar dem Genom als Gesamtheit des genetischen Textes. Dieser Aspekt unterstreicht, dass die Epigenetik eines Menschen sehr viel komplexer ist als seine Genetik:Wir besitzen in der Regel nur ein Genom, aber wir haben Abertausende, vielleicht sogar Abermillionen verschiedene Epigenome.
Der Begriff Epigenetik wurde vom britischen Entwicklungsgenetiker Conrad Hal Waddington in den 1940er Jahren geprägt (_ Abb. 1, S. 22). Das erste epigenetisch aktive Enzym identifizierten Charles David Allis und Kollegen im Jahr 1996 [3] (für eine aktuelle Übersicht über die Geschichte der Epigenetik siehe [4]). Die griechische Vorsilbe „Epi“ bedeutet so viel wie „neben“, „über“, „zusätzlich“ oder „anbei“. Nach der bekanntesten Definition ist die Epigenetik tatsächlich eine Art Nebengenetik: Sie beschreibt alle nicht im DNA-Code gespeicherten Strukturen, die die Eigenschaften und den Stoffwechsel einer Zelle kontrollieren und von ihr an Tochterzellen weitergegeben werden [5]. So sind mitotisch – also ungeschlechtlich – vererbte epigenetische Markierungen beispielsweise verantwortlich dafür, dass aus einer Blutstammzelle immer nur Blutzellen werden, während sich neue Haut immer nur aus Hautvorläuferzellen entwickelt und so weiter.
Eine neuere, besonders elegante Definitionen der Epigenetik lautet: „Epigenetik ist die Weitergabe erworbener Information ohne Veränderung der DNA-Sequenz“ [6]. Noch umfassender sollte man vielleicht sogar schlicht von erworbenen molekularbiologischen Umweltanpassungen sprechen, die nicht in der DNA-Sequenz gespeichert sind. Letztlich geht es nämlich nicht nur um die Weitergabe der Information, sondern auch um deren Speicherung, also um eine Art zelluläres Gedächtnis für Umwelteinflüsse. Nervenzellen leben beispielsweise meistens bis zum Tod eines Menschen und teilen sich nie. Dennoch können sie epigenetische Programme dauerhaft einfrieren und aufbewahren.
Was die Natur mit dem Werkzeugkasten der Epigenetik anstellt, ist beachtlich: Die Metamorphose einer Raupe zum Schmetterling ist letztlich eine ontogenetisch gesteuerte Umprogrammierung der Epigenome zahlreicher Zellen. Im Gegensatz dazu fällt die wichtigste Entscheidung imLeben einer Honigbiene durch ein Umweltsignal: Alle Larven eines Bienenvolkes sind sich genetisch sehr ähnlich. Jede hat das Potenzial zur fruchtbaren und langlebigen Königin. Ob die Larve aber wirklich eine Königin oder doch eineArbeiterinwird, hängt vomFutter ab. Geben ihr die Ammenbienen ab dem dritten Lebenstag nur Gelee Royal, wandeln sich die Epigenome vieler ihrer Zellen und sie entwickelt sich zur Königin. Füttern die Ammenbienen Pollen undNektar hinzu, entsteht eine Arbeiterin [7].
Epigenetische Schalter und Dimmer
Auch bei uns Menschen ist längst klar: Unsere Epigenome verändern sich im Laufe des Lebens [8]. Sie reagieren auf das Klima, die Nahrung, das Bewegungsverhalten, den biologischen Stress und vieles mehr. Selbst eineiige Zwillinge sind sich epigenetisch gesehen immer unähnlicher, je älter sie werden und je verschiedener ihr Lebensstil ist. Das Leben hinterlässt molekularbiologische Spuren in den Zellkernen, verändert das Gedächtnis der Zellen. Das kann sogar so weit führen, dass ein Zwilling ein hohes Krebs- oder Diabetesrisiko hat, der andere nicht [9].
Ein Teil der etwa 23.000 in die menschliche DNA eingebauten Gene scheint für jede Zelle lebenswichtig zu sein und ist immer aktiv. Die anderen Gene unterliegen der epigenetischen Steuerung. Es gibt mehrere Systeme, die sie mehr oder weniger konsequent an- oder ausschalten oder herauf- bzw. herunterdimmen können. Das bekannteste und am besten erforschte System sind Methylgruppen (CH-3), die direkt von Enzymen aus der Klasse der DNA-Methyltransferasen (DNMT) an die Cytosin-Nukleotide der DNA gebunden werden. Geschieht dies in der Nähe einer so genannten Promotor- Region, die die Aktivität eines Gens steuert, verhindert es meist das Ablesen der genetischen Information. Eine Methylierung an anderen Stellen bewirkt hingegen häufig, dass Gene auf „aktivierbar“ geschaltet werden.
Substanzen wie Azacitidin, Decitabin und Zebularin, die DNMTs bei ihrer Arbeit behindern, heißen DNMTInhibitoren. Da sie epigenetisch abgeschaltete Gene wieder aktivierbar machen, gelten sie als viel versprechende potenzielle Arzneimittel. In der Krebstherapie werden sie zum Teil bereits erfolgreich verwendet [10], und auch über ihren Einsatz als Psychopharmaka wird nachgedacht.
In den Körperzellen des Menschen sind vier Fünftel der zu diesem Zweck besonders geeigneten Stellen an der DNA methyliert. Diese Stellen sind sogenannte CpG-Inseln, wo oft in größerer Zahl zwei Cytosin-Basen auf beiden Strängen der DNA schräg gegenüber liegen. Die DNA ist dann immer an beiden Strängen methyliert – ein geschickter Mechanismus, der dafür sorgt, dass eine Zelle im Fall der Teilung das Muster ihrer DNA-Methylierungen an beide Tochterzellen vererbt (_ Abb. 2). Die Töchter übernehmen jeweils einen der beiden methylierten Stränge und methylieren danach mit Hilfe von DNMTs auch das Cytosin auf dem gegenüberliegenden Strang.
Das zweite wichtige epigenetische Schaltersystem befindet sich an den Histonen. Als Histone bezeichnet man eine Gruppe von basischen Proteinen, die als wichtiger Bestandteil des Chromatin genannten DNA-Protein- Gemischs die DNA verpacken und schützen. Es gibt vier verschiedene Histone, die sich – einmal verdoppelt – zu einem Oktamer zusammenlagern. Ein solches Oktamer kann 147 Basenpaare der DNA-Doppelhelix aufspulen und bildet dann die Grundeinheit des Chromatins, das Nukleosom. Histone können von der Zelle mit Hilfe von Chromatin- Enzymen vielfältig biochemisch verändert werden. Sie unterliegen der Histonmodifikation. Dabei können sich einzelne Modifikationen gegenseitig beeinflussen und die biochemischen Veränderungen des Chromatins entweder verstärken oder abschwächen. Die Abfolge und Kombination dieser biochemischen Histonveränderungen entlang des Chromatins wird auch als Histon-Code bezeichnet, denn beides beeinflusst die Aktivierbarkeit der Gene.
Doch die epigenetischen Veränderungen an den Histonen können noch viel mehr: Manche ermöglichen, dass Enzyme und andere Proteine oder Proteinkomplexe an das Erbgut binden, die wichtige regulatorische Aufgaben haben oder Schäden in der DNA reparieren. Andere Histonmodifikationen geben den Zugriff auf so genannte Enhancer frei, die die Aktivität benachbarter Gene verstärken, oder sie sorgen dafür, dass ein Enhancer in die Nähe eines Gens gelangt, das besonders häufig abgelesen werden soll, und so fort. Wieder andere Chromatinmodifikationen entscheiden mit, ob das von ihnen kontrollierte DNAStück nahe am Rand des Zellkerns aufgehängt wird und damit schlechter für die Gen-Ablesemaschinerie erreichbar ist als Gene, die sich im Zentrum des Zellkerns befinden. Epigenetiker haben inzwischen rund 200 verschiedene Histonveränderungen entdeckt, die in irgendeiner Form Einfluss auf die Genregulation nehmen: Es gibt zum Beispiel Methylierungen, Acetylierungen, Ubiquitinierungen und Phosphorylierungen – und das an den verschiedensten Stellen der Histone [5].
Bekannte und gut untersuchte Enzyme, die den Histon-Code verändern, sind die Histondeacetylasen (HDAC) und die Histonmethyltransferasen. Erstere entfernen Acetylgruppen von Histonen, die anderen lagern Methylgruppen an. Beides fördert im Allgemeinen die Bildung von besonders kompaktem Heterochromatin, erschwert also das Ablesen der DNA. Wirkstoffe wie Valproinsäure, Vorinostat oder SAHA, die HDACs behindern, heißen HDAC-Hemmer. Ähnlich wie die DNMT-Inhibitoren werden sie zum Teil bereits erfolgreich in der Onkologie eingesetzt und gelten als viel versprechende Kandidaten im Kampf gegen eine Reihe weiterer Krankheiten.
Derzeit wird darüber hinaus an einer neuen Gruppe deutlich spezifischerer epigenetischer Medikamente geforscht. Besonders vielversprechend sind erste Versuche mit Hemmern der Histonmethyltransferase EZH2 [11] oder sogenannter Bromodomains, die den Histon-Code lesen und weitere die Genaktivität regulierende Enzyme gezielt an geeignete DNA-Stellen lotsen [12].
Als drittes epigenetisches System produziert die Zelle verschiedene nichtkodierende Ribonukleinsäuren (RNAs), vor allem Mikro-RNAs (miRNAs), aber auch so genannte langkettige und zirkuläre nichtkodierende RNAs (lncRNAs und circRNAs) sowie kleine interferierende RNAs (small interfering RNAs; siRNAs). Zu deren Aufgaben gehört es, die Übersetzung der Erbinformation bestimmter, spiegelbildlich zu ihnen passender Gene in ein Protein zu behindern. Das entsprechende Gen wird damit rückwirkend blockiert oder in seiner Aktivität gedämpft. Für die Entdeckung dieser RNA-Interferenz erhielten Andrew Fire und Craig Mello im Jahr 2006 den Nobelpreis für Physiologie bzw. Medizin.
Doch nichtkodierende RNAs übernehmen noch weitere epigenetische Aufgaben. Da sie Sequenzen enthalten, die spiegelbildlich zu bestimmten kodierenden DNA-Abschnitten passen, benutzen Zellen sie offenbar auch als Boten, die epigenetische Enzyme gezielt an bestimmte, zu ihrem Code passende Stellen der DNA transportieren. Mit ihrer Hilfe kann die Zelle also entscheiden, welche ihrer Gene sie per DNA-Methylierung oder Veränderung des Histon-Codes epigenetisch auf aktivierbar oder inaktivierbar stellt [13].
Gesundheit ist kein Zufall
Dank der enormen Fortschritte bei der Sequenzierung genetischer und epigenetischer Informationen mit Hilfe moderner Apparate und Computer ist es inzwischen möglich, auf der Ebene einzelner Gewebe- und Zelltypen direkt zu messen, welche Auswirkungen Einflüsse des Lebensstils und aus der Umwelt auf die Genregulation und die epigenetische Prägung der Zellen haben. Besonders wichtig für diese Arbeit war, dass zunächst im Rahmen des im Jahr 2003 abgeschlossenen Humangenomprogramms der menschliche DNA-Code komplett gelesen wurde und dass man heute von immer mehr Genen die Funktion kennt.
In großen Forschungskonsortien wie dem Internationalen Humanen Epigenomprogramm IHEC, dem EU-Programm BLUEPRINT oder dem Deutschen Epigenomprogramm DEEP wird seit einigen Jahren systematisch erforscht, welche epigenetischen Unterschiede beispielsweise zwischen verschiedenen Zelltypen oder auch zwischen gesunden und kranken Zellen des gleichen Typs bestehen. Es gibt inzwischen sogar Untersuchungen, die systematische epigenetische Veränderungen im Verlauf einer gesunden oder auch pathologischen Entwicklung einzelner Organe und Zellverbünde aufzeichnen.
Man kann sagen, die Wissenschaft belauscht mittlerweile die Interaktion zwischen äußeren Einflüssen und epigenetischen Veränderungen, die der Stammzellforscher Rudolf Jaenisch, Boston, einst als „das Gespräch zwischen Erbe und Umwelt“ bezeichnete [1]. Der Autor des vorliegenden Artikels versteht ein solches Gespräch als permanente Anpassungsleistung des Organismus an die sich stetig wandelnde Umwelt. Und er sieht in dieser Leistung das eigentliche Substrat dessen, was wir Gesundheit nennen. Anders als es die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert, ist Gesundheit deshalb auch nicht das Gegenteil oder die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit ist demnach auch kein Zufallsprodukt, sondern ein generationenüberschreitender Prozess, der die Wahrscheinlichkeit der mitunter zufällig eintretenden Krankheit verringert [2].
Gut erforscht – teilweise allerdings überwiegend in Zellkulturen oder Tiermodellen – sind epigenetische Veränderungen, die praktisch jede Form von Krebserkrankung begleiten [14, 15], aber auch die epigenetischen Folgen von toxischem psychosozialen Stress [16] oder einer anhaltenden Über- und Fehlernährung [17]. Auch das biologische Alter eines Menschen kann man mit keiner anderen Methode so exakt bestimmen, wie mit einem als epigenetische Uhr bezeichneten Algorithmus, der das Muster der DNA-Methylierungen auswertet: auf plus/minus 3,6 Jahre genau [18].
Besonders beeindruckend ist zudem eine ganze Serie von Studien, die den Einfluss von Sport auf das Stoffwechselgeschehen in Muskel- oder Fettgewebe anschaulichmacht. Eine aktuelle Untersuchung der Muskelzellen von 16 Männern im Alter von 60 bis 65 Jahren ergab zum Beispiel, dass jene Männer, die zeitlebens Sport getrieben hatten, an 714 Promotoren eine geringere DNA-Methylierung besaßen als unsportliche Männer. Die betroffenen Promotoren kontrollieren die Aktivität von 745 Genen, darunter solche, die den Zellstoffwechsel in eine positive, gesunderhaltende Wirkung verändern. Einige dieser Gene enthalten Baupläne für Enzyme, die die Insulin- Empfindlichkeit erhöhen oder anderweitig in den Kohlenhydratstoffwechsel eingreifen, was beides das Diabetesrisiko beeinflusst. Andere der leichter aktivierbaren und dadurch auch häufiger aktivierten Gene helfen den Zellen im Kampf gegen oxidativen Stress. Oder sie fördern den Muskelaufbau, was zum Beispiel erklären könnte, wieso Menschen, die immer schon viel Sport getrieben haben, ihre Muskeln auch im Alter schneller und effektiver reaktivieren können [19].
Weitere viel beachtete Studien zum Thema demonstrierten, dass sich die Epigenetik in Muskelzellen bereits nach einem 20-minütigen Ergometertraining wandelt, dass ein sechsmonatiges Sportprogramm die epigenetische Regulation von Fett- und Muskelzellen an 7.663 Genen verändert und dass sich nach einem Programm, bei dem 23 Probanden über drei Monate hinweg nur ein Bein trainierten, die Epigenetik der Muskulatur zwischen beiden Beinen an knapp 5.000 Stellen unterschied [20].
Perinatale Programmierung und Gesundheit
Für die Prävention von Volks- und Alterskrankheiten gewinnt ein weiterer Aspekt der Epigenetik zunehmende Bedeutung: Viele wichtige epigenetische Markierungen werden bereits in empfindlichen Prägephasen während der Organentwicklung gesetzt – also vor allem im Lauf der Schwangerschaft und in den ersten Jahren des Lebens bis zur Pubertät. Diese epigenetischen Weichenstellungen tragen maßgeblich zur sogenannten perinatalen Programmierung der späteren Gesundheit und Persönlichkeit bei [21]. Dadurch prägen der Lebensstil der werdenden Eltern sowie das psychosoziale Klima und die Ernährung während der frühen Kindheit entscheidend die Krankheitsanfälligkeit im gesamten späteren Leben. Es gibt zum Beispiel Hinweise, dass ein frühkindliches Trauma oder schwerste anhaltende Vernachlässigung in jungen Jahren bei Menschen eine bleibende Umprogrammierung von Gehirnzellen auslösen und die Menschen dadurch sehr viel später anfällig für Depressionen oder eine Neigung zu gewalttätigem Verhalten machen kann [22].
Eine ähnlicheWirkung auf die Epigenetik der Stressregulation des Kindes hat es, wenn die Mutter während der Schwangerschaft mehrfach stark traumatisiert wurde [23]. Und selbst wenn die Großmutter mütterlicherseits während ihrer Schwangerschaft mehrfache Gewalterfahrungen machen musste, finden sich epigenetische Auffälligkeiten bei den Enkeln. Diesen Umstand erklärt mansich damit, dass die Eizellen, aus denen die Enkel später hervorgegangen sind, im Embryonalstadium der Mutter angelegt worden sind und eventuell bereits zu diesem Zeitpunkt empfänglich für hormonell vermittelte Signale waren [24].
Nach dem gleichen Prinzip können andere Umweltfaktoren wie eine Überernährung oder ein Schwangerschaftsdiabetes der schwangeren Mutter oder Bewegungsmangel und Fehlernährung des Kindes in den ersten Lebensmonaten dessen am Stoffwechsel beteiligte Zellen so verändern, dass es im Alter eher als andere zu Typ-2-Diabetes, Adipositas oder Herz-Kreislauf-Krankheiten neigt [25].
Im Jahr 2018 fasste der unlängst verstorbene Biopsychologe und Stressforscher Dirk Hellhammer, Trier, solche und viele weitere – auch eigene – Resultate zu dem prägnanten Fazit zusammen: „Vor- und nachgeburtliche Belastungen sind mit Abstand der größte Risikofaktor für später im Leben auftretende stressbezogene Gesundheitsstörungen“ [26]. Diese Aussage ist vor allem bemerkenswert, da zu den sogenannten Stresskrankheiten die meisten wichtigen Volkskrankheiten zählen, also neben nahezu jeder psychischen Erkrankung auch Typ-2- Diabetes, Adipositas, Herz-Kreislauf- Krankheiten und zu einem gewissen Anteil Krebs.
Es ist längst anerkannt, dass die Gesundheit eines Menschen – sofern man diese als kontinuierlichen Prozess begreift – neun Monate vor seiner Geburt beginnt, letztlich zum Zeitpunkt der Empfängnis. Das biologische Substrat, das dem Körper die Fähigkeit verleiht, Informationen aus der perinatalen Phase zu speichern und die daraus resultierende, mehr oder weniger ausgeprägte Widerstandskraft bis ins hohe Alter wirken zu lassen, ist zu einem großen Teil die Epigenetik. Doch jetzt häufen sich die Hinweise, dass die Prägung unserer Gesundheit bereits deutlich vor der Empfängnis startet. „The Lancet“ widmete imJahr 2018 gleichmehrere Beiträge demThema der präkonzeptionellen Gesundheit. Danach beeinflussen unsere spätereGesundheit bereits Ereignisse, die sich Monate bis Jahre vor unserer Zeugung ereignen. ZumBeispiel sollteman zukünftige Eltern zu ausgewogener Ernährung und ausreichender Bewegung motivieren, über ungesunde Verhaltensweisen wie das Rauchen oder starken Alkoholkonsum noch besser aufklären sowie gezielte Maßnahmen gegen Übergewicht oder Mangelernährung ergreifen. Bei zukünftigen Müttern sollteman zudembesser als heute auf ausreichende Blutspiegel wichtiger Mikronährstoffe wie Folsäure oder Eisen achten [27].
Auch hier spielt die Epigenetik eine zentrale Rolle. Denn es häufen sich zunehmend die Indizien, dass der Lebensstil der Eltern die Epigenetik von Ei- und Samenzellen beeinflusst. Die Spermien adipöser Männer haben zum Beispiel sehr verschiedene Epigenome, je nachdem ob man sie vor oder nach einer Magenbypass-Operation analysiert [28]. Auch Nikotinkonsum oder sogar in früher Kindheit erlebter toxischer Stress scheinen die Epigenetik in den Spermien Erwachsener Männer zu verändern [29]. Es ist vor allem aus vielen Experimenten mit Nagetieren bekannt, dass solche Veränderungen das Erkrankungsrisiko der Nachkommen beeinflussen [2].
Transgenerationelle Epigenetik und Ausblick
An diesem Punkt verschwimmen die Grenzen zu einem besonders spektakulären Teilgebiet der Epigenetik: der transgenerationellen epigenetischen Vererbung. Dabei geht es um die Möglichkeit, dass epigenetisch erworbene Umweltanpassungen über die Keimbahn an folgende Generationen weitervererbt werden. Bei Pflanzen, Würmern und Fliegen ist die Existenz dieses Phänomens längst zweifelsfrei belegt (_ Abb. 3). Bei Säugetieren und vor allem dem Menschen ist das Bild weniger klar, denn diese Art der nichtgenetischen Vererbung setzt mehrere Grundbedingungen voraus: Sie muss über mindestens vier Generationen nachgewiesen sein, da unsere Keimbahn wie bereits erwähnt schon im Großmutterleib angelegt wird. Und es muss ausgeschlossen sein, dass die Informationen per wiederholter perinataler Programmierung transportiert worden sind. Außerdem ist derzeit noch umstritten, auf welche Weise die epigenetischen Markierungen die wichtigen Phasen der epigenetischen Reprogrammierung bei der Bildung neuer Keimzellen und direkt nach der Befruchtung überstehen. Diese setzen den neuen Keim epigenetisch in eine Art Urzustand zurück, aus dem dann wieder jeder mögliche Zelltyp des späteren Lebens werden kann.
Doch die Indizien, die für die transgenerationelle epigenetische Vererbung auch bei Menschen sprechen, nehmen zu. So belegen einige Experimente mit Nagetieren, dass sowohl das DNA-Methylierungsmuster als auch der Histon-Code zwischen den Generationen nicht immer so vollständig zurückgesetzt werden, wie man früher dachte. Außerdem scheinen nichtkodierende RNAs als eine Art epigenetische Boten zwischen den Generationen zu funktionieren. Sie sind von der Reprogrammierung nicht betroffen und könnten helfen, wichtige Markierungen sehr früh im Leben gezielt neu zu setzen (für eine Übersicht siehe [2, 30]).
Faszinierend ist inzwischen auch die Fülle der Studien mit verschiedenen Arten von Nagetieren, die belegen, dass die negativen epigenetischen Folgen einer Fehlernährung, Vergiftung oder Traumatisierung selbst dann an mehrere folgende Generationen weitergegeben werden, wenn nur die Väter betroffen sind und die Nachkommen teils sogar per künstlicher Befruchtung gezeugt wurden. Eine der jüngsten Studien dieser Art zeigte den prägenden Effekt einer frühkindlichen Traumatisierung von Mäusen sogar noch in der vierten Folgegeneration [31].
Für eine möglichst erfolgreiche Krankheitsprävention der Zukunft enthalten all diese Befunde aus der Welt der Epigenetik eine klare Botschaft: In der wichtigen Phase, die mit dem Kinderwunsch zukünftiger Eltern beginnt und über die Schwangerschaft sowie die frühe Kindheit bis zur Pubertät anhält, wirken sich gesellschaftliche Maßnahmen zur Gesundheitsförderung unter Umständen doppelt bis dreifach aus. Werdende Eltern sollten deshalb besser als heute unterstützt und entlastet werden. Und Gesundheitsprogramme sollten so früh wie irgend möglich starten. Es ist gut möglich, dass sich eine solche Strategie noch drei oder vier Generationen später auszahlt.
Zusammenfassung
Komplexe menschliche Merkmale wie Resilienz, Lebenserwartung, Gesundheit oder Persönlichkeit entstehen niemals schicksalhaft fast ausschließlich aus den geerbten Anlagen heraus. Sie sind immer das Resultat des untrennbaren Zusammenspiels aus genetischem Erbe, gegenwärtiger Umwelt und prägenden Einflüssen aus der Vergangenheit. Für letzteres hat die Evolution einen eigenen Mechanismus geschaffen. Mit ihm beschäftigt sich die junge Wissenschaft der Epigenetik.
Epigenetische Strukturen reagieren auf Umwelteinflüsse und Lebensstilfaktoren, indem sie die Aktivierbarkeit der Gene in den Körperzellen verändern. Zellen haben dadurch ein Gedächtnis für Umwelteinflüsse. Das heißt, sie wechseln ihre Stoffwechselprogramme, auch als Phänotypen bezeichnet.
Das epigenetische Programm interpretiert also vor dem Hintergrund der genetischen Anlagen die Einflüsse des Lebensstils und aus der Umwelt. Es ist reversibel und beeinflusst das individuelle Erkrankungsrisiko. Zudem enthält es prägende Informationen aus der Vergangenheit. Besonders wichtig ist hierbei die perinatale Phase, also die Zeit im Mutterleib und ungefähr im ersten Jahr nach der Geburt. Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass epigenetisch gespeicherte Umweltanpassungen zusätzlich über die Keimbahn vererbt werden können. Diese transgenerationelle epigenetische Vererbung wäre ein bislang kaum beachteter, neuer Faktor für unsere Gesundheit. Für die Präventionsmedizin ergeben sich aus diesen Erkenntnissen wichtige neue Ansätze zur Vorbeugung nahezu aller so genannterVolks- undAlterskrankheiten.
Schlüsselwörter: Epigenetik, Genregulation, perinatale Programmierung, frühkindliche Prägung, komplexe Krankheiten
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