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Gyne 04/2019

Sexuelle Störungen nach sexueller Gewalt

Autorin:

  M. Büttner

          

Einleitung

Sexuelle Gewalt ist häufig und bildet regelmäßig die Grundlage für die Entwicklung von schweren Störungen der Sexualität. Der Beitrag beschreibt typische sexuelle Beschwerden von Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen und gibt neben Empfehlungen für ein traumasensibles Vorgehen in der gynäkologischen Anamnese und Untersuchung auch Hinweise dazu, wo Betroffene
spezialisierte Beratungs- und Therapiemöglichkeiten finden.
Gewalt gegen Frauen ist ein Thema, das in der gynäkologischen Praxis bislang wenig Aufmerksamkeit erfährt. Dabei ist davon auszugehen, dass jede vierte bis fünfte Frau in Europa in der Vergangenheit körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt hat [1]. Jede achte Frau in Deutschland wurde außerdem als Jugendliche oder Erwachsene unter Anwendung von körperlichem Zwang oder Drohungen sexuell misshandelt [2]. Und jede 13. Frau hat vor dem 16. Lebensjahr sexuellen Missbrauch mit Körperkontakt erlitten [3].
Während die zumeist männlichen Täter bei sexuellem Missbrauch im Kindesalter überwiegend aus der Familie (49 %) oder dem Bekanntenkreis (27,3 %) stammen [3], wird sexuelle Gewalt in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter vor allem durch Dating- [4] oder Intimpartner [5] verübt. So war jede vierte Frau in Deutschland bereits mindestens einmal im Leben körperlicher oder sexueller Gewalt in der Partnerschaft ausgesetzt [6].
Viele Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, sind darüber hinaus als Kind emotional und/oder körperlich misshandelt und vernachlässigt worden. Diese Betroffenen fallen oft Sexuelle Störungen nach sexueller Gewalt durch sexuelle Beschwerdebilder von besonderer Schwere auf, sodass die Annahme naheliegt, dass sich die Effekte der unterschiedlichen Traumatisierungen auf die Störungsgenese addieren [7].
Im Moment des Übergriffs empfinden viele Betroffene völlige Schutzlosigkeit und Ausgeliefertsein. Sie werden von Ohnmacht, Ekel, Scham, Angst – mitunter bis hin zur Todesangst – oder Schmerzen überwältigt. Ihr wehrloser Körper ist wie erstarrt und gelähmt. Selbst wenn die Betroffenen verabscheuen, was geschieht, werden nicht selten reflektorisch körperliche Erregung oder Orgasmen ausgelöst.
Bei einem Teil der Betroffenen setzt schließlich einMechanismus ein, der sie vor dem verstörenden Erleben bewahren soll – die Dissoziation. Die Wahrnehmung verändert sich, schafft Distanz zu dem Geschehen oder blendet es ganz aus.Was passiert, erscheint unwirklich. Der Körper spürt nichts mehr, ist wie betäubt oder wird als nicht mehr zugehörig empfunden. Manchmal besteht hinterher eine Amnesie für Teile des Erlebten, die die Betroffenen vor einer Überflutung mit unerträglichen Erinnerungen schützt.
Frauen, die diese Seite von Sexualität kennengelernt haben, haben später oft mit ganz erheblichen Problemen in ihrer eigenen Sexualität zu kämpfen – und zwar umso eher, je häufiger es zu Übergriffen gekommen ist und je schwerer sich diese gestalteten [8, 9]. So gilt sexuelle Gewalt mit Penetration in Vagina, Anus oder Mund als besonders schädigend und auch wenn die Übergriffe sehr früh im Leben erfolgten, es womöglich sogar die ersten Erfahrungen mit Sexualität überhaupt waren, sind die Folgen für die Sexualität oft besonders tiefgreifend.

Posttraumatische Belastungsstörung im Bereich der Sexualität („Sexuelle PTBS“)

Für viele betroffene Frauen ist Sexualität nach dem Trauma untrennbar mit den überwältigenden Erfahrungen der Gewaltereignisse verknüpft. Bei jeder erneuten Konfrontation mit Sex werden die Erinnerungen daran lebendig – nicht selten in einer Intensität, als würde gerade wieder ein Übergriff stattfinden. Sex heute fühlt sich an „wie damals“, unabhängig davon, wie lange das Ereignis schon vorüber ist. Jedes Mal aufs Neue werden die Betroffenen von schwer zu ertragenden Gefühlen, Gedanken und Körperempfindungen erfasst. Neben Ekel und Abscheu sind es Angst, Panik, Ohnmacht
oder Wut, die es den Betroffenen schwer machen, Sexualität als angenehm zu erleben. Filme und Bilder von den Gewalthandlungen versetzen sie zurück in die traumatische Situation. Körpernahe Erinnerungen fühlen sich so an, als seien die Betroffenen noch immer im Intimbereich verwundet oder vom Sperma des Täters beschmutzt [10].
Eine Überaktivierung des autonomen Nervensystems ist vermutlich mitverantwortlich für eine Stress und Schutzreaktion, die wie „freeze, flight, fight, or fright“ [11] anmutet. Das Herz rast, der Atem wird flach und die Muskulatur spannt sich stark an, um den Körper auf eine Reaktion vorzubereiten. Da Flucht und Kampf jedoch in der Regel keine Option sind, erstarren viele Betroffene angstvoll und fühlen sich unfähig zu handeln oder sich zu bewegen.
Ist der Beckenboden von der muskulären Verspannung betroffen, kann es unter anderem zu anhaltenden Unterbauchschmerzen, Schmerzen bei der Penetration und auch zu Vaginismus oder  Vulvodynie kommen. Blasen- und Darmentleerungsstörungen sind keine seltene Begleiterscheinung [12, 13]. Tatsächlich sind Beckenbodendysfunktionen [14],Dyspareunie [15, 16] und Vaginismus
[15, 17] bei Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen häufiger anzutreffen als bei anderen.

Fallbeschreibung 1
Ende 30-jährige Patientin, sexuelle Gewalt in der Kindheit:

„Ich habe schon lange mit Schmerzen im Unterleib zu tun, vor allem beim Sex. Ich war damit bei verschiedenen Gynäkologinnen, aber gefunden wurde nie etwas. Mit meinem Freund zu schlafen, geht schon lange nicht mehr – nicht nur, weil es weh tut. Ich empfinde dabei so viel Ekel und Angst, dass es mich lähmt. Wenn er mich im Intimbereich berührt, bekomme ich außerdem große Angst. Manchmal kann ich wie ein Roboter alles mitmachen, bin dabei aber ganz weit weg und spüre mich nicht. In letzter Zeit laufen auch immer wieder Filme von dem Missbrauch in meinem Kopf ab. Mein Freund weiß, was damals passiert ist. Er ist sehr verständnisvoll und will mich nicht überfordern, aber ich weiß, dass er den Sex vermisst. Ich frage mich, wie lange das gut gehen kann. Wahrscheinlich trifft er irgendwann eine andere Frau, die ihm das erfüllen kann.“

Das Denken betroffener Frauen ist oftmals geprägt durch starke Selbstablehnung und Machtlosigkeit. „Ich bin selbst schuld, dass ich missbraucht wurde“, „Ich habe es nicht verdient, gut behandelt zu werden“, „Ich bin schlecht“ sind nur einige von vielen typischen Überzeugungen, die es ihnen schwermachen, sich selbst verständnisvoll zu begegnen und dem Ohnmachtserleben etwas entgegenzusetzen.
Bei einem Teil der Betroffenen kommt es beim Sex außerdem zu Dissoziation. Derealisation („Was gerade geschieht, ist nicht wirklich“), Depersonalisation („Mein Körper gehört nicht zu mir“) und Abwesenheitszustände mit anschließender Amnesie („Ich habe wohl abgeschaltet. Was genau passiert ist, weiß ich nicht“) stellen Versuche des Gehirns dar, Distanz zu dem überfordernden Erleben
zu schaffen.
Körperlich äußert sich Dissoziation darin, dass bestimmte Körperteile wie etwa das Genital, das Becken, die Brüste, die Hände oder Bereiche im Gesicht als gefühllos oder taub empfunden werden. Oft zeigt sich, dass dieMuster dieser körperlichen Selbstwahrnehmung Körperbereiche betreffen, die in den sexuellen Gewalthandlungen eine bedeutende Rolle gespielt haben. Das Nicht-Spüren schützt vor einer Konfrontation mit einer Vielzahl von Auslösereizen, die mit diesen Körperregionen in Verbindung stehen und belastendes Wiedererleben auslösen können [10].

Fallbeschreibung 2
Mitte 30-jährige Patientin, sexuelle Gewalt in der Kindheit:
„Ich konnte ja noch nie richtig Sex haben, weil ich diesen Vaginismus habe. Eine Gynäkologin hat mal versucht, mich mit Vaginaldilatatoren zu behandeln. Sie hat sich viel Zeit genommen, hat mir genau erklärt, wie ich damit üben muss. Ich konnte die Übungen aber nicht machen, weil ich jedes Mal zu zittern begann und nicht mehr richtig atmen konnte. Heute weiß ich, dass das Panikattacken waren. Trotzdem habe ich es ein paarmal versucht, bis plötzlich so ein Ekelgefühl in mir aufkam. Zuerst war es nur eine Ahnung, aber dann habe ich glasklar meinen stöhnenden Großvater vor Augen gesehen – und seine geöffnete Hose.“

Ein fehlendes Verlangen nach Sex, Erregungsstörungen und Orgasmusprobleme sind bei Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen zwar besonders häufig, längst nicht jede Betroffene fühlt sich hierdurch jedoch beeinträchtigt. Körperliche Zeichen sexueller Reaktionen werden von einigen Betroffenen nämlich als Beweis dafür gewertet, dass sie den Missbrauch gewollt und selbst verschuldet haben – und zwar vor allem dann, wenn währenddessen unwillkürlich Erregung und Orgasmen ausgelöst wurden. Ähnlich geht es ihnen, wenn sich erregende Missbrauchs- oder Gewaltfantasien in die Wahrnehmung drängen, was bei einem Teil der Betroffenen regelmäßig geschieht [10].

Fallbeschreibung 3
Mitte 40-jährige Patientin, sexuelle Gewalt in der Kindheit:
„Das Schlimmste ist, dass ich diese abscheulichen Bilder nicht einfach wegschalten kann, sondern dass sie was mit einem Körper machen. Mein Mann freut sich zwar, wenn ich komme – und das passiert dann meistens sehr schnell – aber ich ekle mich anschließend vor mir selbst. Das ist doch pervers!“

Um nicht jedes Mal wieder mit dem überfordernden Erleben konfrontiert zu werden, vermeiden viele Betroffene Sexualität. Während ein Teil von ihnen sogar ganz auf sexuelle Beziehungen verzichtet, lassen sich andere Betroffene zwar auf Partnerschaften ein, gehen sexuellen Begegnungen aber so weit wie möglich aus dem Weg. Oft ist es die Angst, eines Tages vom Partner verlassen zu werden, die sie dazu bewegt, trotzdem Sex mitzumachen. Um die Belastungen, die für sie mit Sex verbunden sind, aushalten zu können, nehmen einige von ihnen vorher Alkohol, Beruhigungsmittel oder Drogen zu sich. Manche Betroffene kontrolliert das sexuelle Miteinander sehr stark, um Auslösereize zu umgehen. So kann es sein, dass sie einige Berührungen, Sexpraktiken oder Stellungen tolerieren können,
während sie auf andere aversiv reagieren [10].
Viele der hier beschriebenen Beschwerden lassen sich unter der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) zusammenfassen, die als Reaktion auf ein sexuelles Trauma innerhalb der Sexualität zu Tage tritt ( Abb. 1). Je nach Ausprägung des Symptombilds können nach Ausschluss organmedizinischer Ursachen zusätzlich die ICD-10-Kriterien eines oder mehrerer der folgenden Störungsbilder erfüllt sein:
– Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41)
– Nichtorganische Dyspareunie (F52.6) bzw. Vaginismus (F52.5), nach ICD-11 zukünftig sexuelle Schmerzstörung
– Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörung (F44.6)
Für feste Partnerschaften bedeutet die sexuelle PTBS einer traumatisierten Frau oft eine große Herausforderung. Ihre Partner oder Partnerinnen sind oft verunsichert, wie sie sich bei sexuellen Begegnungen verhalten sollen, leiden unter den Einschränkungen für die gemeinsame Intimität und Sexualität oder sind hilflos, weil sie merken, dass sie wenig dazu beitragen können, dass sich die Situation verändert. Es ist nicht ungewöhnlich, dass es mit der Zeit zu ernsthaften Krisen oder auch Trennungen kommt.

Sexuelles Risikoverhalten

Einige Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen setzen sich in der Sexualität ernsthaften Bedrohungen aus. Ungeschützter Sex mit wechselnden und wenig bekannten Partnern, riskante Sexualpraktiken, Alkohol- und Drogenkonsum vor dem Sex oder währenddessen tragen dazu bei, dass die Betroffenen sich leicht mit einer sexuell übertragbaren Erkrankung anstecken, ungewollt schwanger werden, sich verletzen oder erneut Opfer von sexueller Gewalt werden. Waren sie in der Kindheit sexuellem Missbrauch ausgesetzt, so lassen sie sich häufiger als andere Frauen schon in sehr jungem Alter auf Sex ein und gehen später öfter der Sexarbeit nach.

Fallbeschreibung 4
Ende 20-jährige Patientin, sexuelle Gewalt in der Kindheit und Adoleszenz:
„Ich weiß gar nicht, wie ich anders in Kontakt gehen soll als über Sex. Sonst bin ich doch nichts wert für einen Mann. Ich versuche, die Männer für mich einzunehmen, indem ich alle ihre Wünsche beim Sex erfülle. Ich trete sehr aufgeschlossen auf, mache auch Sachen mit, zu denen ich mich erstmal überwinden muss – aber es geht dann schon. Einer wollte mich kürzlich fisten (Anm. der Autorin: Dabei wird die ganze Hand in die Vagina oder den Anus eingeführt und dann zur Faust geballt). Das hat richtig weh getan. Aber manchmal muss man eben auch etwas aushalten. Ein anderer hat mich mal ziemlich heftig gewürgt, bis ich schließlich bewusstlos geworden bin. Manchmal habe ich auch ein mulmiges Gefühl, weil ich meistens ohne Kondom Sex habe. Aber wenn die Männer nicht danach fragen, sage ich auch nichts. Ich will ja niemanden verärgern.“

Viele dieser Betroffenen geraten deshalb immer wieder in riskante Situationen, weil sie Schwierigkeiten damit haben, ihre persönlichen Bedürfnisse und Grenzen wahrzunehmen und gegenüber einem Partner zu vertreten. In der sexuellen Gewalterfahrung – und oft auch durch körperliche, emotionale und Vernachlässigungstraumatisierungen in der Kindheit – haben sie gelernt, sich unterzuordnen
und zu tun, was von ihnen verlangt wird, wenn sie Beachtung erfahren und Strafe vermeiden wollen. Dass selbst ihre intimsten Grenzen von anderen überschritten werden, ist für sie „etwas Normales“. Es ist ihnen vertraut, gehört nach ihrer Erfahrung zu Beziehungen dazu und veranlasst sie nicht, sexuelle Forderungen zurückzuweisen, selbst wenn diese ihnen nicht guttun. Zu groß sind das Bedürfnis nach Zuwendung und Zuneigung und die Angst, beides zu verlieren, wenn sie den Erwartungen des anderen nicht nachkommen. Auch Impulse, sich selbst zu verletzen oder zu bestrafen, können eine Rolle spielen. Werden Alkohol, Drogen oder Beruhigungsmittel eingenommen, verstärkt sich das Problem zusätzlich [18].

Sexsucht (nicht-paraphile hypersexuelle Störung)

Gelegentlich trifft man auch auf Frauen, die nach einer sexuellen Gewalterfahrung unter einer Impulskontrollstörung leiden, die sich in der Sexualität äußert. Starke, schwer kontrollierbare Impulse steuern das sexuelle Verhalten und führen zu einem ständigen Drang, Sex zu haben oder Erregung und Orgasmen zu erleben. Während einige Betroffene ständig masturbieren oder Pornos und Cybersex konsumieren, brauchen andere viele direkte Kontakte mit einem oder mehreren wechselnden Sexpartnern. Eine solche Impulskontrollstörung kann suchtartige, zwanghafte oder dissoziative Züge tragen [19] und ist oft Ausdruck eines innerseelischen Versuchs, depressive Verstimmungen oder belastende Gefühle zu regulieren [20]. Nicht nur sexuelle Gewalt, sondern auch andere traumatische Erfahrungen, wie z.B. Vernachlässigung [21] und körperliche oder emotionale Gewalt in der Kindheit [22] gelten als Risikofaktoren für die Entwicklung solcher Beschwerdebilder.

Auswirkungen auf die sexuelle Orientierung

In der psychotraumatologischen Arbeit begegnet man regelmäßig betroffenen Frauen, denen eine Partnerschaft mit einem Mann aufgrund ihrer traumatischen Gewalterfahrungen mit männlichen Tätern als zu bedrohlich erscheint, die aber dennoch nicht auf eine feste Beziehung verzichten möchten. Mit einer Frau als Lebensgefährtin können sie sich ausreichend sicher fühlen. Ein Teil dieser Frauen lebt auch Sexualität mit ihren Partnerinnen, andere haben daran kein Interesse. Belastungen können z. B. im Zusammenhang mit Identitätsverunsicherungen oder Coming-out-Prozessen auftreten.

Fallbeschreibung 5
Mitte 40-jährige Patientin, sexuelle Gewalt in der Kindheit:
„An bestimmten Männern komme ich auf der Straße kaum vorbei. Sie müssen etwas Ruppiges und Mieses an sich haben, dann will ich sie ansprechen. Manche lassen sich überreden, mit mir mitzukommen. Dann will ich es schnell und hart.Wenn ich keinen Orgasmus hatte, weiß ich nicht wohin mit meinen Gefühlen – Frust, Verzweiflung, Wut. Das geht schon so seit ich 13 bin. Eine Beziehung hat deshalb noch nie geklappt. Das erträgt ja keiner.“

Traumasensible Gesprächsführung und Untersuchung in der gynäkologischen Praxis

Vor allem wenn Schmerzen bei der Penetration, chronische Unterbauchschmerzen oder Vaginismus eine Rolle spielen, steht für traumatisierte Frauen der Gang in die gynäkologische Praxis an. Für manche Betroffene ist dies jedoch mit großen Schwierigkeiten verbunden, weil in der gynäkologischen Untersuchung Erinnerungen an das Trauma hervorgerufen werden können. Einige Veränderungen im Gesprächs- und Untersuchungsablauf können viel dazu beitragen, psychischer Überforderung, dem Wiedererleben von belastenden Erinnerungen an das Trauma und Dissoziation vorzubeugen. Ein solcher traumasensibler Umgang mit gynäkologischen Patientinnen kann u. a. die folgenden Elemente enthalten:

Screening auf traumatische Vorerfahrungen: Patientinnen mit traumatischen Erfahrungen in der Vergangenheit berichten im Kontakt mit Ärzten selten spontan hiervon. Auch sexuelle Probleme, die infolge einer Traumatisierung bestehen können, werden i. d. R. nicht angesprochen. Mithilfe eines behutsamen Screenings lässt sich eine erste Orientierung darüber gewinnen, ob eine Traumatisierung in der Vorgeschichte besteht.

Im Aufnahmebogen: Ein Aufnahmebogen, der sich u. a. auch nach traumatischen Erfahrungen in der Vergangenheit erkundigt, signalisiert betroffenen Patientinnen unaufdringlich, dass eine besondere Sensibilität für das Thema besteht. Zu sehen, dass auf ihre Bedürfnisse Rücksicht genommen wird, kann es traumatisierten Patientinnen erleichtern, sich anzuvertrauen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hierfür genügt schon ein kurzer Hinweis, z. B.: „Manchen Frauen fällt es schwer, sich gynäkologisch untersuchen zu lassen, weil sie in der Vergangenheit besondere Belastungen erlebt haben, wie z. B. Sexualität gegen ihren Willen (Missbrauch, Vergewaltigung) oder andere Formen von Gewalt. Bitte sprechen Sie Ihre Ärztin/Ihren Arzt an, wenn dies auf Sie zutrifft.Wir helfen
Ihnen gerne, die Untersuchung möglichst angenehm zu gestalten und beraten Sie bei Bedarf auch zu weiteren Hilfsangeboten.“

Im Anamnesegespräch: Die oben vorgeschlagene Formulierung für den Aufnahmebogen kann in verkürzter Form auch für ein Screening im Anamnesegespräch verwendet werden.

Nicht in jedem Fall ist ein Trauma jedoch bewusst erinnerbar. Regelmäßig finden sich Betroffene, die PTBS-artige Beschwerden zeigen, ohne jedoch von einer traumatischen Erfahrung in ihrer Vergangenheit zu wissen. Doch auch in solchen Fällen können implizite Erinnerungsfragmente vorhanden sein, die sich z. B. als belastende Gefühle, körperliche Reaktionen oder Dissoziation bemerkbar machen können. Sollten also trotz leerer Traumaanamnese im Gespräch oder in der Untersuchungssituation Symptome zu Tage treten, die wie eine posttraumatische Reaktion anmuten, ist ein traumasensibles Vorgehen in jedem Fall von Vorteil.

Screening auf Traumafolgestörungen und traumabedingte sexuelle Probleme:
– „Haben Sie den Eindruck, dass das belastende Ereignis sich noch immer auf Ihr Leben auswirkt?“
– „Leiden Sie unter einer seelischen Erkrankung wie z. B. Depressionen oder starken Ängsten?“
– „Müssen Sie immer wieder an das belastende Ereignis denken, obwohl Sie das gar nicht möchten?“
– „ErlebenSieProblemeinder Sexualität?“

Vor der gynäkologischen Untersuchung: In medizinischen Untersuchungssituationen benötigen traumatisierte Patientinnen oft ein erhöhtes Maß an Mitbestimmung und Kontrolle, um sich nicht erneut ohnmächtig, ausgeliefert und hilflos zu fühlen. Mit den folgenden Fragen und Interventionen kann man traumatisierte Frauen unterstützen, ein ausreichendes Sicherheitsgefühl zu entwickeln:
„Wäre es hilfreich für Sie,wenn …
– … ich Ihnen den Untersuchungsstuhl und die Instrumente vorher zeige?“
– … ich Ihnen die Untersuchungsschritte ankündige und erkläre, bevor ich sie durchführe?“
– …wir ein Stopp-Zeichen vereinbaren für den Fall, dass Sie eine Pausebrauchen(z. B. rechte Hand heben, laut „Stopp“ sagen)? Wir können jederzeit zwischendurch unterbrechen, wenn es Ihnen zuviel wird.“
– … wir anschließend gemeinsam entscheiden, ob wir nach der Pause weitermachen oder ob wir lieber einen neuen Termin vereinbaren und nochmal Anlauf nehmen (sofern es sich nicht um eine Untersuchung handelt, die zwingend zum gegebenen Zeitpunkt durchzuführen ist)?“

Einige Betroffene kennen Wege, sich selbst zu regulieren. Unter Umständen haben sie in einer Therapie bereits Techniken zur Entspannung, Selbstberuhigung und Verankerung im Hier und Jetzt kennengelernt oder verfügen über antidissoziative Skills (Igelball, Gummibänder, Notfallkoffer etc.). Die Kompetenzen der Patientin können in der Untersuchungssituation hilfreich sein: „Gibt es etwas, das Ihnen helfen könnte, die Untersuchung zu bewältigen?“

Auch die Frage danach, wie sich die untersuchende Person verhalten sollte, falls es zu Wiedererleben oder Dissoziation kommt, ist oft aufschlussreich. Die Patientinnen können sich dazu äußern, ob Sie z. B. angesprochen oder auf eine bestimmte Weise berührt werden wollen oder ob es eine andere Hilfestellung gibt, die angeboten werden kann. Die Darbietung eines harmlosen, aber starken sensorischen Reizes wie z. B. eines Ice-Packs, Eiswürfels oder auch eines sehr intensiven Geruchs wie Ammoniak hilft einigen traumatisierten Patienten dabei, sich schneller wieder mit der Gegenwart zu verbinden.

Während der Untersuchung: Fortlaufend in enger Abstimmung und verbalem Kontakt mit einer traumatisierten Patientin zu stehen, ermöglicht dieser nicht nur, sich über das zu orientieren, was geschieht, es trägt auch dazu bei, dass die Patientin besser in der Gegenwart bleiben kann, anstatt in belastende Erinnerungen an das Trauma abzugleiten. Zusätzlich kann die Patientin Vertrauen
zu ihrer Ärztin oder ihrem Arzt aufbauen, weil sie erleben kann, dass diese ihre Sicherheitsbedürfnisse versteht und darauf eingeht.
– Berührungen ankündigen und ggf. vorher um Zustimmung bitten: „Ist es o.k., wenn ich jetzt das Spekulum einführe?“
– Während jedes Untersuchungsschritts erklären, was genau geschieht und wie es sich möglicherweise anfühlt.
– Zustimmung für den nächsten Untersuchungsschritt einholen: „Können wir weitermachen oder brauchen Sie noch einen Moment?“
– Auf die Zunahme von körperlichen Stressreaktionen achten, wie z. B. Zittern, starke muskuläre Anspannung (u. a. im Beckenbodenbereich), Schmerzen bei der Untersuchung, Blässe, Schwitzen oder eine flache, stockende Atmung. Dies kann ein Zeichen dafür sein, dass die Belastung ansteigt, die Patientin aber nicht in der Lage ist, sich zu Wort zu melden. Ggf. nachfragen, wie es der Patientin geht, und anbieten, eine Pause zu machen.

Wenn starkes Wiedererleben oder Dissoziation auftreten: Einige Maßnahmen können helfen, der Patientin Sicherheit zu vermitteln und den Zustand zügig zu beenden. Falls vorab Maßnahmen vereinbart wurden (s. o.), diese anwenden. Die Patientin
– … mit ruhiger Stimme beim Namen nennen und erklären, wo Sie sich befindet: „Frau X, ich bin es, Frau Dr. Y. Sie sind in meiner Praxis.“
– … bitten, Sie anzublicken: „Bitte schauen Sie mich an.“
– Unterleib mit einem Tuch bedecken
– … in eine sitzende Position bringen.
– … ggf. behutsam an der Hand, am Unterarm oder am Fuß berühren, nachdem dies angekündigt wurde: „Ich werde jetzt vorsichtig mit meiner Hand Ihren Unterarm berühren. Können Sie das spüren?“
– … bitten zu benennen, was Sie im Untersuchungszimmer alles sehen kann, um sie vollständig zurück in die Gegenwart zu bringen.
– … fragen, was ihr jetzt guttun würde und was es braucht, damit sie in der Gegenwart bleiben kann.
– …fragen, ob sie mit der Untersuchung fortfahren kann oder ob sie lieber zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal in die Praxis kommen möchte (sofern die Umstände der Untersuchung es zulassen, s. o.).
– Empfehlung, nach dem Besuch in der Praxis noch eine Weile an der frischen Luft spazieren zu gehen, um wieder ganz „im Hier und Jetzt anzukommen“.

Weitervermittlung in eine spezialisierte Beratung oder Therapie

Mittlerweile gibt es ein breites Beratungs- und Therapieangebot für traumatisierte Menschen.

Beratung:
– Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“
– telefonische und Online-Beratung für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder aktuell noch erleben: www.hilfetelefon.de oder 08000 116 016.
– Traumaambulanzen: Beratung zu traumatherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten. Traumaambulanzen gibt es in verschiedenen Städten, zumeist angliedert an eine psychosomatische oder psychiatrische Klinik.
– Lokale Beratungsstellen, z. B. Frauennotrufe, Wildwasser oder Traumahilfezentren.

Verzeichnisse von qualifizierten Traumatherapeuten:
– Website der Deutschen Gesellschaft für Psychotraumatologie: www.degpt.de.
– Website des Fachverbands für Anwender der psychotherapeutischen Methode Eye Movement Desensitization and Reprocessing: www.emdria.de.

Bestehen traumabedingte sexuelle Probleme und wünscht die Patientin eine Behandlung hierfür, so empfiehlt sich je nach Fragestellung und Verfügbarkeit eine der folgenden Therapiemöglichkeiten:
– traumaorientierte Psychotherapie unter Berücksichtigung der sexuellen Probleme,
– traumaorientierte sexualmedizinische oder sexualtherapeutische Behandlung,
– traumaorientierte Beckenboden-Physiotherapie.

Auch Traumaambulanzen und Sexualberatungsstellen (z. B. ProFamilia) können unter Umständen den Weg in eine geeigneteWeiterbehandlung vermitteln.

Zusammenfassung

Gynäkologinnen und Gynäkologen können einenwichtigen Beitrag in der Erkennung von sexuellen Problemen nach sexueller Gewalt leisten und Betroffenen Wege in eine traumaorientierte Behandlung aufzeigen. Ein traumasensibles Vorgehen erleichtert traumatisierten Patientinnen die Bewältigung der gynäkologischen Anamnese und Untersuchung.

Schlüsselwörter: Sexuelle Gewalt, Sex nach Gewalterfahrung, Traumafolgestörungen, sexuelle PTBS, traumasensible Behandlung, traumaorientierte Behandlung

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Melanie Büttner
Sprechstunde für sexuelle Störungen
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München
Langerstraße 3
81675 München
kontakt@melanie-buettner.de

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Literatur:

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Vollständige Literatur unter: medizin.mgo-fachverlage.de/gynaekologie/gyne.html

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