Gyne 03/2018
Gynäkologische Onkologie in der Klinik – Zwischen Handeln und Halten
Autorin: Jessica Groß
Die Aufgabe als Kliniker in der onkologischen Versorgung von Patientinnen liegt primär im Bereich des medizinischen Handels. Sinnvoll ist dies in den Bereichen Diagnostik, Therapie und palliative Versorgung. Oft führt sie aber auch zu einer ärztlichen Haltung, die wenig Raum für Emotionen lässt. Im Gegensatz zu PsychoonkologInnen, die in unterschiedlicher Weise in die Versorgung der Patienten eingebunden sind, liegt der Fokus von ÄrztInnenn im praktischen Diagnostizieren und Behandeln, sei es medikamentös oder operativ. Darin liegt sowohl eine Chance als auch ein Risiko: Durch das körperliche Behandeln entsteht eine besondere Bindung zu den Patienten/innen; der medizinische Aktivismus lässt jedoch oft wenig Raum für Emotionen.
Psychoonkologische Versorgung
Die psychoonkologische Betreuung ist seit vielen Jahren im Klinikalltag etabliert. Sie wird in erster Linie durch speziell ausgebildete PsychoonkologInnen geleistet. Praktiziert wird dabei unterschiedlich: In manchen Abteilungen begleiten die PsychoonkologInnen die ärztlichen Visiten und besuchen alle onkologischen Patienten. Bei anderen behandeln sie nur die mit Beratungswunsch oder Patienten, bei denen das ärztliche oder pflegerische Personal eine Indikation sieht. Zudem kann ein Screening auf Belastung (Distress) mit unterschiedlichen standardisierten Instrumenten durchgeführt werden. Durch die Fachgesellschaften und die S3-Leitlinien für Brustkrebs und Psychoonkologie wird ein standardmäßiges Screening mit validierten Instrumenten gefordert [1, 2]. Dieses muss für die Zertifizierung von Brustkrebszentren und gynäkologischen Krebszentren nachgewiesen werden. Grundlage für diese Vorgaben ist zum einen die Prävalenz psychischer Belastung im Sinne von klinisch relevanter Depression oder Stimmungsbeeinträchtigung bei onkologischen Krankenhauspatienten in bis zu 40 %der Fälle [3]. Zum anderen spielt die Evidenz der Wirksamkeit psychoonkologischer Interventionen, die mit messbareren Effekten auf emotionalen Distress und Lebensqualität assoziiert sind, eine Rolle [4].
Dabei ist die Durchführung eines Screenings und der Einsatz standardisierter Messinstrumente auch in der psychoonkologischen Fachdiskussion umstritten: Die Evidenz, dass Screening-Programme die Detektion der Belastung von Patientinnen (Distress) verbessern und dadurch ihr Wohlbefinden steigern, ist inkonsistent [5]. Es gibt Patienten ohne erhöhte Distresswerte, die sich psychoonkologische Betreuung wünschen, während es deutlich belastete Patientinnen ablehnen. Die Ergebnisse von Screening-Instrumenten sind auch davon abhängig, in welchem Setting und von wem sie angewendet werden. Darüber hinaus ist bei der Diagnose von „psychological disorders“ noch immer unklar, welche Intervention hilfreich ist [5]. Die Auffälligkeiten von Patientinnen mit Mammakarzinom in standardisierten Instrumenten (Hornheider Fragebogen, Hospital Anxiety and Depression Scale), das von ihnen selbst geäußerte Bedürfnis nach psychoonkologischer Unterstützung sowie die Einschätzung von ÄrztInnenn und anderen Mitgliedern des Behandlungsteams nach Unterstützungsbedarf, variiert deutlich [6]. Auch in einer deutschlandweiten Multicenterstudie von 4.020 Krebspatienten korrespondierten die gemessenen Distresswerte (Distress-Thermometer, Patient Health Questionnaire) nicht mit dem Wunsch nach psychoonkologischer Unterstützung [7]. Die Inanspruchnahme psychoonkologischer Unterstützung ist darüber hinaus vom Geschlecht, Bildungsgrad, Familienstand und sozioökonomischen Faktoren abhängig [7, 9]. Jüngere Frauen mit höherer Bildung äußerten dabei häufiger Unterstützungsbedarf und es besteht ein deutliches Stadt-Land- Gefälle. Menschen aus größeren Städten erhielten insbesondere in Krebsberatungsstellen doppelt so häufig eine Versorgung wie Personen aus kleineren Orten [9].
Persönliche klinische Interviews weisen auf mehr Betroffene mit erhöhten Distress, als durch Fragebögen erfasst werden, hin [8]. Im Gegensatz zu ambulanten Krebsberatungsstellen, die die Patienten/innen aktiv aufsuchenmüssen, konnten im stationären Setting mehr und unterschiedlichere Patientengruppen erreicht werden [9].
Rolle von ÄrztInnenn
Die professionelle psychoonkologische Betreuung durch speziell weitergebildete Psychologen in der Klinik ist wichtig und hilfreich. Doch auch die Rolle von ÄrztInnenn ist für die emotionale Situation der Patienten/ innen zentral. Sie sind in der Regel die wichtigsten Ansprech- und Vertrauenspersonen im Behandlungsprozess. Weiß et al argumentiert zur Diskrepanz zwischen Distress und Inanspruchnahme psychoonkologischer Betreuung zum Zeitpunkt der Erstdiagnose bei Mammakarzinompatientinnen: „Möglicherweise sind zur Zeit der Diagnosestellung, unmittelbar vor einem chirurgischen Eingriff, Ängste, Sorgen und ein unspezifisches Bedürfnis nach Erleichterung und Unterstützung ausgeprägt, das sich jedoch eher an die ärztlichen Behandler richtet“ (S. 200) [10]. Zunächst sind Distress und akute emotionale Belastung eine normale Reaktion auf die Krebsdiagnose „needing understanding und support from practioners caring for the patient“ (S. 263) [5].
Die Bedeutung von Kommunikation im klinischen Alltag wird von ÄrztInnenn allerdings oft unterschätzt. Dabei kann gute Kommunikation sogar schlechte Medizin kompensieren: „Selbst wenn die Behandlung gelingt, die Kommunikation jedoch weitgehend misslingt, werden Patienten den Begleitern nie vergeben. Auf der anderen Seite gilt:Wenn die Behandlung medizinisch nicht zu einer Besserung führt, die Kommunikation aber gelingt, werden Patienten uns nie vergessen und dennoch dankbar sein“ (S. 82) [11].
Was ist für eine gelingende Kommunikation wichtig?
Im Kontext der normalen ärztlichen Diagnostik und Therapie von Karzinompatienten ist die ärztliche Haltung im Gespräch und in der Behandlung relevant: „Eine der zentralen Interventionen ist dabei das empathische und aufmerksame Zuhören“ (S. 22) [12]. Aktives Zuhören ist durch Fragen und Rückspiegeln im Sinne empathischer Antworten gekennzeichnet. Anstatt sofort Erklärungen oder Ratschläge zu liefern, ist die Gewährung von Freiraum für die Entwicklung und Äußerung von Gefühlen wichtig. Dies gelingt vor allem durch Schweigen und Nachfragen [11].
In der psychoanalytischen Nomenklatur kann diese Haltung, die Gewährung dieses Freiraums und das Aufnehmen der Gefühle des Gegenübers als Containing bezeichnet werden. Containing bedeutet, „diese Gefühle auf sich wirken zu lassen, sie nachzufühlen. Gewissermaßen stellt sich der Helfende mit seiner psychischen Kapazität als Aufbewahrungsort, als Container für die Gefühle des anderen zur Verfügung und achtet darauf, was sie in ihm selbst auslösen“ (S. 102) [13]. Es werden nicht sofort Tipps oder Ratschläge gegeben. „Das Containing- Konzept ermöglicht es, auch dann in Kontakt zu bleiben, wenn der Helfende die Situation noch nicht verstanden hat oder erkennen muss, dass er an der Krisensituation […] selbst nichts ändern kann“ (S.102–103) [13]. Containing von Gefühlen und Leid bedeutet: „Sprechen lassen, Anteilnahme, dabei kein Herunterspielen oder Dramatisieren der geschilderten Problematik. Ermutigen, sogenannte negative Gefühle wie Trauer, Schmerz, Schuld oderWut zuzulassen und zu zeigen“ (S. 103) [13]. Dann kann es gelingen, die Patienten bei der Konfrontation mit der Realität zu stützen.
Das Containing geht auf den britischen Psychoanalytiker Bion zurück, der damit zunächst die mütterliche Haltung gegenüber dem Säugling beschreibt: Durch Aufnehmen der Unlustbekundungen des Säuglings, kann die Mutter oder Bezugsperson diesem dabei helfen, unerträgliche Erfahrungen allmählich in erträgliche zu verwandeln. Containing im lateinischem Wortsinn continere bedeutet, „innerhalb fest fixierter Grenzen halten, beinhalten, […], die Kapazität besitzen etwas zu halten, für etwas Raum, Platz oder Potential zu haben“ (S. 68) [14]. In der Behandlungssituation geht es darum, die Gefühle der Patienten aufzunehmen und ihnen dadurch zu helfen, diese auch für sich selbst anzunehmen und zu ertragen. Aufgabe ist dabei die Kapazität durch die Verbindung zwischen den beiden Persönlichkeiten zu stärken und mentalen Schmerz zu ertragen, bis daraus Bedeutung erwächst. Anstatt dem Schmerz durch Verdrängung, Projektion, Somatisierung, Aggression oder anderen Mechanismen auszuweichen, kann er angenommen, reflektiert, geträumt und gesprochen werden. Der „Container“ schafft den Ort, „wo die werdende Wahrheit des „Contained“ erlebt, wahrgenommen, untersucht und verstanden werden kann. Dieser „Container“ ist unsere eigene Psyche, aber auch die Psyche des anderen imWechsel“ (S. 89) [14].
Warum gelingt das von ärztlicher Seite so schwer?
Im ärztlichen Alltag kann und soll keine psychoanalytische Behandlungssituation hergestellt werden. Es geht auch nicht darum, als klinisch tätiger Arzt die Ansprüche an eine professionelle Psychotherapie zu erfüllen. Eine Beziehung findet jedoch ohnehin immer statt: Bei jeder Begegnung im Krankenhaus kommunizieren und gestalten wir die Arzt-Patienten Interaktion. Das dargestellte Konzept des Containing liefert dabei Anregungen für Reflektions- und Lernprozesse, mit denen wir diese Beziehung hilfreicher gestalten können.
Für die ärztliche Behandlungssituation bedeutet das zunächst, den Gefühlen und Äußerungen von Patienten Raum zu geben. Verzweiflung, Wut, Trauer und Hilflosigkeit dürfen vorhanden sein. Wir sind als Behandelnde präsent, setzen diesen Gefühlen aber nicht unmittelbar Maßnahmen wie Trost entgegen, um sie zu begrenzen oder auszuschalten. Da wir als ÄrztInnen im Alltag immer als Aktive auf der Handlungsebene gefordert und tätig sind, erscheint uns das oft als „Aushalten“. Aber auch das Halten und Bereitstellen eines Resonanzraums ist Handeln. Darüber hinaus bleiben wir trotzdem diejenigen, die für die Diagnose, Sicherheit, Operationen und dem Einsetzen von Analgetika oder auch Psychopharmaka zuständig sind. Auch im Gespräch müssen wir neben dem Resonanzraum Orientierung bieten können. Eine große Chance für die Arzt-Patienten- Beziehung ist es hierbei, verschiedene Instrumente einzusetzen und auf mehreren Ebenen agieren zu können. Auch im Kontext körperlicher Beeinträchtigung durch eine Krebserkrankung kann psychologischer Distress unterschiedliche Erfordernisse wie klinische Behandlungsplanung, Symptomtherapie oder psychologische Hilfe signalisieren [5]. Es ist eine Herausforderung, diese Doppelrolle aushalten und ausfüllen zu können.
Der wahrhaftigen Kommunikation und dem Wahrnehmen von Gefühlen stehen sowohl unsere eigenen Ängste, als auch der Wunsch nach Lösung aller Probleme entgegen. Diese Erwartung wird von außen an uns heran getragen, aber auch als eigener Anspruch reproduziert. „Leidende ängstliche Patienten setzen die Mitarbeiter dem permanenten Druck aus, stets allwissend und omnipotent sein zu müssen“ (S. 101) [15]. In dem daraus resultierendem Aktivismus lassen wir schließlich nicht ausreichend Raum für Emotionen.
Gerade in der palliativen Situation sind wir oft, insbesondere von Angehörigen, mit der aggressiven Aufforderung konfrontiert: „Tun Sie doch etwas!“. Wenn wir an dieser Stelle nicht dem Handlungsdruck nachgeben und Untersuchungen oder Therapien verordnen, sondern die Aggression aushalten und die Trauer und Angst dahinter sehen können, ist das eine Chance für das Gegenüber, die eigenen Gefühle anzunehmen.
Nicht hilfreiche Situationen entstehen meist beimVersuch Hilflosigkeit, Verzweiflung oder andere „negative“ Gefühle zu „bekämpfen“. Ein anderes Beispiel dafür ist der Umgang mit Trauer und der Versuch, Trost zu spenden. „Diese überwiegend unbewusste und nicht offen kommunizierte Auftragshaltung kann auf beiden Seiten […] einen erheblichen Stressfaktor darstellen. Auf der einen Seite nimmt der Trauernde, der sich berechtigterweise in einer Situation der Untröstlichkeit befindet, intuitiv war, dass hier eine Veränderung und Anpassung gewünscht und gefordert wird, was naturgemäß zu einer Widerstandshaltung und zum Rückzug führt. Auf der anderen Seite spürt der vermeintliche Tröster, dass er sich in Bezug auf seine Zielvorstellung auf verlorenem Posten befindet, was häufig zu weiteren, unsäglichen Tröstungsversuchen führt“ (S. 85) [16].
Als wichtigstes Gegenüber im Behandlungsprozess müssen wir zwischen der Rolle des „Containens“ und der Rolle des „Machens“ oszillieren können. Hier liegt die Chance für eine gelingende Kommunikation: Wir sind nahe an den Patientinnen und werden von ihnen gefordert, im Kontakt präsent zu sein. Nicht nur in der palliativen Versorgung ist es wichtig, die Grenzen der eigenen Möglichkeiten zu wissen [17] und diese selbst aushalten zu können.
Diese emotionalen Fähigkeiten werden im Studium wenig gelehrt und auch die klinische Ausbildung ist in der Regel nur wenig geeignet,umeigene Gefühle wahrzunehmen und zu reflektieren. Gute Voraussetzungen für eigene Lernprozesse liegen in den formalen Qualifikationsmöglichkeiten, die im Rahmen der fachärztlichen Weiterbildung, obligatorischer Kurse psychosomatischer Grundversorgung und derWeiterbildung psychosozialer Onkologie der Deutschen Krebsgesellschaft angeboten werden. Diese müssen jedoch im klinischen Alltag immer wieder eingeübt werden. Psychologische Supervision des ärztlichen Teams wird bisher leider nur in wenigen Kliniken angeboten, stellt aber eine gute Möglichkeit zur Reflektion des eigenen Handels und der Wahrnehmung der eigenen Gefühle dar. Auch außerklinische Balint-Gruppen können hilfreich sein. Mit Fokus auf die klinische Versorgung mit Besonderheiten und Zwängen des stationären Alltags sind jedoch innerhäusliche Supervisionsangebote sinnvoll. Unter dem Druck der Sparzwänge und der ökonomischen Notwendigkeit zur Fallzahlsteigerung mit möglichst wenig Personal, ist dies sicher eine Herausforderung, die den Leitlinien entspricht. Patientenzentrierte Kommunikation von ÄrztInnenn führt zu einer höheren Zufriedenheit und kann bzw. sollte durch gezieltes Training erlernt werden; dies fordert die S3-Leitlinie für Brustkrebs [1]. Im Erhebungsbogen für Brust- und gynäkologische Krebszentren wird die Supervision des Teams durch Psychologen empfohlen.
Zusammenfassung
Zur psychoonkologischen Versorgung in Kliniken gehört der standardmäßige Einsatz von Screening- Instrumenten zur Frage der psychischen Belastung von onkologischen Patientinnen und des Interventionsbedarfes. Dieser Einsatz ist jedoch umstritten. Neben objektiven Messwerten spielen die persönliche Ansprache, das konkrete Setting und patientenspezifische Charakteristika für die Inanspruchnahme von psychoonkologischer Unterstützung eine Rolle. Darüber hinaus bleiben ÄrztInnen die zentralen Ansprechpersonen im klinischen Alltag. Diese Interaktionen sind für die emotionale Situation der Patientinnen nicht zu unterschätzen. Gelingende Kommunikation sollte durch empathisches aktives Zuhören und Fragen, anstelle von Aktivismus und Ratschlägen, charakterisiert sein. Den Gefühlen von Patienten Raum zu geben, kann – unter Bezugnahme auf das psychoanalytische Konzept des Containing – als haltender Beziehungsprozess verstanden werden, der den Patienten das Spüren und Verarbeiten von Schmerz, Trauer und Verzweiflung erlaubt. Vor dem Hintergrund der aktiven Haltung als medizinisch handelnde ÄrztInnen, erscheint dies manchmal als rein passives Aushalten, ist jedoch ungleich mehr und stellt eine andere Ebene des therapeutischen Handels dar. Es besteht sowohl die Herausforderung als auch die Chance darin, unseren onkologischen Patientinnen behandelnd und begleitend zur Seite zu stehen.Umdas ärztliche Potential voll ausschöpfen zu können, sind wir auf eigene Lernprozesse durch Fortbildungen und Supervision im klinischen Alltag angewiesen.
Literatur
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- Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten, Langversion 1.1, 2014, AWMF-Registernummer: 032/051OL.
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